Danke! Abschied von Lübbe & Co.

Tilo Krügel war nicht der einzige, dem das Wasser ein bisschen höher in den Tränenkanälen stand – die Schauspieler um Enrico Lübbe verlassen Chemnitz auch mit einem weinenden Auge. Sie gehen nach Leipzig. Aber Chemnitz werden sie nicht vergessen.

Kein Wort fiel häufiger am Samstagabend beim Abschiedsfest im Schauspielhaus als „wir”. Sie fühlen sich als Team, sind die „Wirs”. Die Schauspieler, die Dramaturgen, anderswo gern mal Selbstdarsteller, wissen, dass sie den großen Erfolg der letzten fünf Jahre nicht dem einzelnen, sondern einander verdanken. „Und diesem wunderbaren Team hier im Theater – allen, von den Garderobefrauen bis zu den Technikern”, formulierte es der – wie immer – selbstlose Kopf des Ganzen, Enrico Lübbe. Noch waren sie alle ganz gerührt von einer auf deutschen Theatern wohl einmaligen Szene.

Am Vorabend, nach der letzten Aufführung von „Arsen und Spitzenhäubchen”, bei der der sonst so in sich ruhende Bernd Baier mehr nervenberuhigenden Kuchen verdrückte als bei jeder anderen Aufführung, hatte sich der eiserne Vorhang geschlossen. Aus, vorbei, das war’s dann. Nö, diesmal nicht. Der Eiserne hob sich noch einmal – und davor hatten sich die ganzen Techniker aufgereiht zur Reverenz an ein Schauspielerteam, das es ihnen, den Beleuchtern, den Tontechnikern und allen anderen im Hintergrund nicht immer leicht gemacht hatte in seinem Drang, eine rundum perfekte Aufführung abzuliefern und nichts, aber auch gar nichts, dem Zufall zu überlassen. Das sie aber auch uneingeschränkt schätzte für ihre unschätzbare Hilfe im Hintergrund. Und das auch zeigte…

Was denn der Unterschied zwischen Chemnitz und den so genannten „großen” Bühnen sei – abgesehen von Quadratmetern und der Zahl der Schauspieler, wollte Johannes Schulze wissen, der Vorsitzende des Theaterfördervereins, der am frühen Abend eine Talkrunde auf der Vorbühne moderierte (mit Enrico Lübbe, Matthias Huber, Yves Hinrichs, Torsten Buß und Tilo Krügel). Zuerst Schweigen im Walde. Man robbte sich ran. Zug um Zug. Ja, in Chemnitz habe es großes Theater gegeben. Bis der Moderator herausforderte: „Nun sagt’s doch endlich – Chemnitz ist eine ‚große’ Bühne”. Gemurmel: „Stimmt schon, aber das können wir doch nicht sagen…” Bescheidenheit ist eine Zier, noch weiter kommt man auch mit ihr – wenn Leipzig ein „weiter” ist.

Vor welcher Premiere sie am meisten Bammel hatten in den letzten fünf Jahren? Schwer zu entscheiden. Bis auf die Frage des Moderators, nach welcher Premiere am meisten Bier geflossen sei, von Wenzel Banneyer hinten aus dem Publikum der Ruf kam: „Das war nach dem Schotten”. Wie bitte? Der Schotte: Das war die legendäre „Macbeth”-Aufführung – bei der das ganze Team, allen voran Torsten Buß, dem Publikum immer wieder erklären musste, dass eine heute als grausam und blutig verschrieene moderne Aufführung zu Shakespeares Zeiten eher eine Gutenachtgeschichte für die streunenden armen Kinder in den Londoner Docks gewesen wäre.

Wunderbare Aufführungen hat es gegeben: den „Urfaust” von Enrico Lübbe, den er auch in Wien inszenieren durfte nach dem Chemnitzer Muster. Enttäuschungen hat es gegeben: „Liliom”, dieses zartheftige Stück von Ferenc Molnár, das in Chemnitz so wenig volles Haus bekam, ohne dass jemand weiß warum. Entwaffnend Tilo Krügel: „Ich spiele nicht so gern vor nur 70 Leuten. Aber wenn die dann vom ersten bis zum letzten mitgehen und begeistert sind, dann geben wir alles. Und ich bin glücklich”.

Sie haben immer alles geben. Enrico Lübbe, als Regisseur anerkannt, aber noch nie in der Leitung eines Hauses, schon gar nicht eines Schauspiels mit einem schon aus Karl-Marx-Städter Zeiten legendären Ruf. „Es war mutig von Bernhard Helmich, dem Intendanten, und von Barbara Ludwig, der Oberbürgermeisterin, mir die Leitung anzuvertrauen. Ich war ja kaum über 30″.

Tilo Krügel, neben seiner eigentlichen Arbeit als Schauspieler der unermüdliche Hauptmentor („alle anderen haben mitgolfen”) der Studenten des Schauspielstudios, den es besonders traf, als die Hochschule in Leipzig den Vertrag kündigte, der dem Schauspiel so viel gebracht hatte, aber vor allem auch den jungen Studierenden, die – weil aus Chemnitz kommend – zu mehr als 90 Prozent in feste Engagements vermittelt werden konnten. Desto dankbarer war er für die Idee des Fördervereins, ein eigenes Studio zu machen, auch wenn er es jetzt nur noch ein Jahr betreuen durfte.

Torsten Buß, als Dramaturg eher im Hintergrund oder ganz vorn, wenn er einem fragenden Publikum, das Warum einer Inszenierung klar machte, mit einem Wissen und einem Engagement, das überzeugender war als mancher „deus ex machina” bei Brecht.

Sie haben das Theater geöffnet, Schwellenängste abgebaut: Yves Hinrichs mit „seinen” KarateMilchTigern, Matthias Huber, der unermüdliche Motor des Nachtschichtgetriebes mit seinen 126 Vor- und Rückwärtsgängen. Wie viele junge Leute haben sie für das Chemnitzer Theater gewonnen…

Und wir haben jetzt nur von denen gesprochen, die Johannes Schulze auf der Bühne Rede und Antwort standen. Nicht von all den anderen „Wirs”. Die das Arbeiten am Chemnitzer Schauspiel manchmal direkt „entspannend” machten, wie Enrico Lübbe einmal bemerkte. Und dann wieder so interessant und spannend, beim „Verschenken” an die Stadt (Matthias Huber), wie bei dem Projekt „Chemnitz – schönste Blume des Ostens”.

Jetzt versuchen sie, die welke Blume des Leipziger Schauspiels wieder aufzupäppeln. Toi, toi, toi.

Vor allem aber, wie Johannes Schulze es formulierte: „Danke für eine großartige Theaterzeit, die Ihr uns in Chemnitz beschert habt”. Und Danke für Eure guten Wünsche für das Nachfolge-Team um Carsten Knödler. Wir wissen, Ihr werdet hierher schauen. Ihr könnt aber auch sicher sein, dass wir schauen, wieviel Chemnitzer Geist Ihr nach Leipzig reinbringen könnt. Je mehr, desto erfolgreicher werdet Ihr sein. In Chemnitz habt Ihr’s gezeigt…

Und bis zum Schluss haben die “Wirs” bewiesen, wie sehr sie für Chemnitz standen (stehen?). Beim Abschlussfest sammelten sie für das Weltecho – mit Theaterfotos von Dieter Wuschanski. 580 € waren schließlich in der Kasse, die in den nächsten Tagen an die Macher des “Weltecho” zur Beseitigung der Flutschäden übergeben wird.

In der Freien Presse schrieb Matthias Zwarg über das Abschiedsfest