Das Wichtigste: Alle nehmen Märchen ernst, Regie, Schauspieler, Licht, Ton, Bühnentechnik, alle. Nicht als Kinderkram. Die Kinder sollen sich ruhig fürchten vor der grässlichen Eule, dafür freuen sie sich umso mehr, wenn sich das nachtgarstige Federvieh als tagschön glänzende Prinzessin entpuppt und dann auch noch ihren Prinzen kriegt. Und die treuen Premieren-Abo-Gänger und die intelektuellen Väter sollen ruhig mit ihren Assoziationen protzen und im Zauberer Charlie Chaplins Großen Diktator oder in dessen Sohn Mizra grausame Operettenpotentaten wie dereinst Gaddhafi entziffern können.
Mit Andreas Rehschuh ist Dschinni Knödler – mit anderem Pulver und Zauberwörtern – wieder ein Coup gelungen. Rehschuh hat den Text (nach Wilhelm Hauff) bearbeitet mit einer Sprache, die jeden Tag aus den Tagesthemen dröhnt, die aber auch jedes Kind zuhause fürchtet, wenn es mal kleckert. Rehschuh weiß genau, wann er was wie durch Handlung unterstreichen muss, wo er übertreiben darf (unvergesslich die Flugübungen der ungelenken Staks-Störche an den Bungee-Seilen zu Beginn nach der Pause), und wo er sich zurücknehmen kann und muss, weil Text und Spieler einfach alles bringen: die Auftrittsszene von Dschinni mit Klein-Dschinni ist nicht zu überbieten. Philipp von Schön-Angerer, mit Kopf und Bauch – besser geht das nicht! Was für ein Bauchredner, der sichtbar gar keiner ist. Der sich schon mal verhaspeln darf, in der Eile zwischen Hoch und Tief. Wer bin ich jetzt gerade, oder nicht, oder doch und nochmal… Herrlich. Und wie er dann („nur für die Kinder sichtbar“) durch das Geschehen wuselnd immer wieder den richtigen Text finden muss – ohne Ansprache, ohne Dialoghilfe, das spricht wieder mal für die Klasse dieses Schauspielers.
Der Zauberer Kaschnur (Andreas Man-Kozár) ist wirklich ein widerlicher Welteroberer-Schweinehund – so sind all die Bösen bei „James Bond“ seit Gert Fröbe, ja, aber auch der große Diktator oder ein machtbesessener Erdogan. Da bedarf’s keines erhobenen Zeigerfingers, dass auch die Fünfjährigen erkennen: solch böse Zauberer-Politiker müssen weg. Auch wenn sie in ihrer Weltbeherrscher-Vision aus Gras Benzin machen wollen. Auch die Mizras haben in der Welt der mächtigen Erwachsenen nichts verloren, die Marionetten-Söhne. Bei der Premiere erlebten wir Mizra als einen derart dummblöd präpotenten Idioten – hoffentlich ist Trumps (Schwieger-) Sohn nicht so. Johannes Bauer vom diesjährigen Studio spielte ihn perfekt. (Super-Start auf der großen Bühne nach „Perplex“, der Studio-Inszenierung). Er alterniert in künftigen Aufführungen mit seinem Studio-Kollegen Konstantin Rickert.
Wenn Mizra die arme Frau verknackt, um endlich was in den knurrenden Magen zu bekommen, dann klingen absolutistische Herrscherattitüden an („Wenn sie sich kein Brot leisten können, sollen sie halt Kuchen essen“ – fälschlicherweise Marie-Antoinette zugeschrieben, hätte aber zu ihr gepasst) oder in der Schuldfrage („Du bist verhaftet worden, also bist du schuldig“) Bert Brecht (Kriesekreis) oder Kafka (Der Prozess). Im stolzdummen Storchenmädchen können wir Jeannie sprechen hören, das hier gar nicht bezaubernde Vorabendsoap-Girl mit Pips-Stimmchen wie dereinst Barbara Eden oder Doris Day. Die verwandelte Rupffedereule erinnert uns an die Papagena aus der „Zauberflöte“… Alle drei Rollen (oder richtiger vier: sie ist ja auch die wirklich bezaubernde Prinzessin Luna, jenes lebenslustige gute Geschöpf aus dem fernen Westen, das – gegen den Trend – im osmanischen Islam-Osten sein Glück sucht) spielt in bewundernswerter Wandlungsfähigkeit die 26-jährige Seraina Leuenberger, die erst in diesem Jahr die Ernst-Busch-Hochschule abgeschlossen hat, und jetzt – da freuen wir uns drauf – in einigen Chemnitzer Inszenierungen zu sehen ist.
Keine Angst, wir vergessen Kalif und den Großwesir nicht, aber ohne Bühne und Kostüme wären sie nur halb so gut gezeichnet gewesen. Der ganze Saal hat gelacht, als Großwesir Marko Bullack mit dem Calmund-Bauch nach Ferrero-Küsschen schmachtete und sich von Luna (schwupp) sein (angeklebtes) Doppelkinn noch um ein paar Zuckerkalorien dicker füttern ließ. Mal ganz ehrlich: wer – unter den Erwachsenen – hat sich nicht gefragt, wie die das wohl mit der Verwandlung in Störche machen würden… Und dann stakwatschelt da dieser abgerissene, zerzauste, grau gewordene verfettete Alt-Storch herein: Marko Bullack (der sonst so Seriöse: wir denken an „King’s Speech“) ein Großwesir zum Niederknien. Die Kostüme (Grit Walther) überhaupt ein Traum…
Und die Bühne (Thomas Weinhold) genauso. Da machen alle große Augen, wenn die Urkunde sich selbst ein Loch in die Schweinshaut brennt. Das ist Theater, nicht nur für Kinder: der Drehbühnen-Wandel von der riesigen Kalifenkuppel in den vegetationsüppigen Wüstengarten mit einem Urwald, der direkt aus Blättern von Henri Rousseau gemalt zu sein schien, der Thron des abgehobenen Dümmlings ganz oben unter der Kuppelglocke, das „Verschwinden“ des Minaretts, die Schattenspiele im „Supermond“ (mit den Anspielungen, die Andreas Rehschuh auf die Bühne brachte, nimmt es kein Ende: klar, dass Dschinni für das Licht verantwortlich war – wie sein Geist-Urahn in „Aladin und die Wunderlampe“ aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht. Für Emirat-Urlauber: ja Dschinni ist keine Shisha oder solcherlei Tabak). Und die in tausenden von Jahren abgelatschte steinerne Treppe, die von oben, vom hallenden Hügel der Unwirklichkeit hinunterführt ins Diesseits – und der ganze Saal den Atem anhält, ob Kavalier Kalif seine zerfederte Eulenluna mit den furchterregenden Riesenkrallen auch heil runterbrächte. Hat er.
Er, das ist Kalif Chasid aka Stefan Migge. Mädchenaugenverdreher, der wie ein junger Pop-Gott die steilhohe Kuppel hinuntergleitet und einen Rap hinlegt, der sich gewaschen hat. Falco war kein Rapper – aber seine skandal-trächtigen Jeanny-Songs (sprich: Dschinni) waren in den Achtzigern genauso aufregend wie jetzt Migges Rap in der Ostmärchenwelt. Ob er sprach, bettelte, mit sich und der Welt und dem Wesir haderte, ob er über die Bühne tänzelte, oder sich als im Tierreich (herrlich: „es gibt genauso viel blöde Tiere wie blöde Menschen“) durch die kluge Eulenlunaprinzessin (es gibt auch kluge Tiere) geläuterte Herrscher gab – allein wegen Migge ist diese Aufführung jede Sekunde des Ansehens wert.
Und wenn sie doch gestorben sind… Wenigstens würde dann das Familienfoto an sie erinnern – das Schlussbild noch ein gekonnter Gag auf einen vergnüglichen, unterhaltsamen, klugen, spannenden Theaterabend. Alle, wirklich alle, haben den jubelnden Beifall verdient. Auch Chef-Dschinni Knödler, auch wenn er, noch nicht einmal für die Kinder, auf der Bühne sichtbar war.
Die nächsten Aufführungen:
„Kalif Storch“: Gleich heute (Sonntag-) Nachmittag storchte der Kalif wieder über die Schauspielhaus-Bühne. Und weiter: 21., 30. 11., 1. Und 2.12., gleich zweimal am 6.12., und dann noch ganz oft. Herrlich!
„Zar Wasserwirbel“: 22., 27., 28., 29. 11., 8. und 9.12. und noch weitere. Schöne Advents- und Weihnachtszeit…