Chemnitzer Sicht auf Wagners Drama um die Kunst

ein Leben lang im Dienst der Kunst. Sachs und Heinicke. Jetzt kommen andere. Vielleicht werden sie meisterlich. Aber hoffentlich vergessen sie nicht, dass nur „neu“ nicht unbedingt „gut“ sein muss, gar Kunst. Und dass es früher auch Highlights gab, die Meister anzündeten: Wie ein gewisser Michael Heinicke in 26 Jahren in Chemnitz, mit mehr als 50 Inszenierungen, mit einem unvergesslichen „Ring“, mit dem weltweit beachteten „Weg der Verheißung“. Das Publikums-Volk am Samstag bei der Meistersinger-Premiere im lang ausverkauften Chemnitzer Opernhaus ehrte seine „alten“ Meister: Dankbarer, lauter, rhythmischer Jubel für Heinicke und Frank Beermann. Festwiese Opernhaus…

Viel Presse von draußen war da, einige Vertreter wichtiger Blätter wollen noch kommen. Wagner in Chemnitz – da lohnt sich eine Reise immer. Einmal sogar für Wagner selbst. 1849 nach den Dresdner Mai-Unruhen, an denen er kräftig mitprügelte – ob er sich beim Ende des 2. Aktes daran erinnert hat? -hat er, steckbrieflich gesucht, in Chemnitz bei seiner Schwester Clara, die in der heutigen Schönherr-Fabrik wohnte, Unterschlupf gefunden. Er floh weiter nach Zürich. Von dort reiste er nach Venedig, wo er in der Accademia Tizians „Assunta“ sah, die ihn wiederum zur Vollendung der „Meistersinger“ verführt haben soll. Und die (die Himmelfahrt Mariens und die Akademie) Vorbild und Rahmen für die Inszenierung Heinickes wurden und dem veritablen Arzt Matthias Forbrig vom Chemnitzer Klinikum zu einem Theaterauftritt als ebenjener Richard Wagner verhalfen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mögen die Presseleute ganz andere Aspekte herausgreifen, uns sei verziehen, dass wir die Premiere am Samstag mit Chemnitzer Augen sehen. Im Vorfeld hatte Michael Heinicke in einem MDR-Figaro-Interview mit Bettina Volksdorf angedeutet, wohin die Reise dieser „Meistersinger“-produktion gehen würde. Er, Heinicke, wolle keine aktuellen Bezüge hineininszenieren, das sollen andere tun. Ihm gehe es um das große Thema der „Meistersinger“, um die Kunst.

Und so spielt sich das ganze Geschehen in einem Museum ab, einem Kunsttempel. Peter Sykora (Bühne und – farbenprächtige, schöne – Kostüme) hat die Wände in Gunzenhauser-Rot streichen lassen. Die Handwerker sind nicht nur Meister ihres Fachs. Jeder macht was mit oder in Kunst. (Sachs malt sogar! Ganz neuer Einfall… Und gibt das Malen auf, weil er da nicht meisterlich werden kann. Die Staffelei bleibt – stete Mahnung, nach dem Besten zu streben, zerstört in der Ecke liegen. Soll er doch lieber dichten, das kann er – mehrere hundert Werke sind vom realen Hans Sachs überliefert. In seiner Sykora-Werkstatt stehen – eines von vielen starken Bildern – mehr Bücher als nebenan in der kleinen Schusterwerkstatt Leisten).  Auf jeden Fall singen sie.

Einst waren auch in Chemnitz die Handwerker es, die die Stadt voranbrachten. Ein Richard Hartmann etwa, einfacher Zeugschmied (unterste Stufe der Schmiede), später reicher Lokomotivbauer und Unternehmer. Leute wie er sorgten dafür, dass nicht nur Werkstätten und Fabriken gebaut wurden, sondern auch die schönen Stuben auf dem Kassberg. Und die (Ex-)Handwerker in Chemnitz waren sich eines Tages auch überdrüssig der nach Beckmesser-Manier aufspielenden „Stadtpfeiffer“. Die waren ihres technischen oder handwerklichen Niveaus nicht mehr würdig. Und so gründeten sie die Stadtmusik. Mit Wilhelm August Mejo begann – 1833! – die Geschichte der Robert-Schumann-Philharmonie (zu einer Zeit, da Wagner gerade die ersten Pläne für die Meistersinger fasste). Mit dem Geld, das sie als Handwerker und Industrielle verdienten, bauten die Chemnitzer Bürger das Opernhaus, das 1909 eingeweiht wurde. Mit was wohl? Ja, mit den „Meistersingern“, mit dem dritten Akt, der „Festwiese“.

Da hatte draußen auf dem freien Feld ein gewisser Esche, aus einer Handwerkerfamilie stammend, eine Villa gebaut, die die erste Bürgerarchitektur der Moderne werden sollte. Er holte einen van de Velde und einen Munch in sein Haus, Kohorn gegenüber einen Strauss und einen Slezak.

Handwerk und Kunst, Industrie und Kultur, diese Kombination hat in Chemnitz einen ganz besonderen (besonders guten) Klang. Heinicke weiß das. Und mögen noch so viele Kritiker fehlende aktuelle Bezüge bemäkeln werden, er weiß, was er da inszenierte: Industrie schafft Kultur. Und damit etwas, was sie möglicherweise überlebt. Wenn die Welt nicht mehr in Ordnung ist, hängen die Dürer-Apostel auf den Paukenschlag schief. Wer Kunst missbrauchen oder fehlsteuern will, zerstört sie (wie die AfD, oder wie Wagner/Sachs mit ihrer Ablehnung der Verschmelzung von Welschem und Deutschem… Kleine Kritik an Wagner erlaubt sich auch Wagner-Fan Heinicke – das Overbeck-Bild Germania und Italia hat am Ende klaffende Risse).

Die Chemnitzer Oper hatte ein tolles Solistenaufgebot gewonnen. Nicht nur die Chemnitzer Sänger (15 Männer- und nur zwei Frauenrollen!) waren fast komplett vertreten, samt Ex-Kollegen wie Jürgen Mutze und Wieland Müller, die Gäste hoch gehandelte Sänger ihres Fachs.

Franz Hawlata haben wir mehrfach erlebt (Die schweigsame Frau, Parsifal – mit ihm wieder am Karfreitag, nicht verpassen!). Sein Sachs ist nicht der „Schu-/macher und Poet dazu“. Er ist der klügste und intellektuellste der „Meester“, der menschlich größte, der auf Eva verzichtet wie dereinst Wagner auf Mathilde Wesendonck. Der lässt sich durch Tizians „Himmelfahrt“ (die im übrigen gar nicht so locker die Blicke öffnend nach oben fährt, wie Sykora es im Programmheft sieht, sondern eher von den Engeln in der Wolke mühsam nach oben geschoben wird) zu den „Meistersingern“ inspirieren wie Sachs vom Morgentraumlied des Stolzing. Hawlatas Stimme ist nicht umsonst auf allen großen Bühnen der Welt gern gehört – sie kann herrschend sein, streng, ganz sanft. Sie spricht Gefühl – auch in den schwierigsten Passagen. Erstaunlich, nein, er kann es einfach, wie Kouta Räsänen als Pogner dieser Ausnahmestimme auf Kehlkopfhöhe begegnen kann. Großer Auftritt des chemnitzer Finnen. Roman Trekel (Beckmesser) ist nicht nur ein mit allen Notenwellen gewaschener Sänger (herrlich seine „verkorkste“ Wettbewerbsarie), sondern auch ein Schauspieler, den jeder für einen konservativen Blödmann halten soll, und mit dem jeder fast Mitleid empfindet – nicht nur, weil er am Schluss die Hand reichen kann. Wenn Sachs es zulässt, dass er sich an seiner Schulter vor Dankbarkeit ausweint, dann ist zu spüren, dass Heinicke/Trekel mit dem Mann, der rüberbringt, dass ohne Regeln nichts geht (notfalls macht man sich neue, und hält sich dann daran. Sachs zu Stolzing), eine gewisse Sympathie empfinden. Vielleicht muss Beckmesser deswegen bei seiner Fehlermesserei hinter den Vorhang in die Kabine. Üblicherweise kratzt er die Fehler mit Häme auf die Tafel. Und ist am Schluss der kaputte Blamierte. Das würde hier nicht passen. Nicht alles aus der Vergangenheit ist schlecht (auch wenn es auch hier keinen „Sonderweg“ geben kann…)

Die Damen: Mareike Schröder überzeugt als Eva – ihr Duette mit Sachs, mit Stolzing, da die Naive, dort die Schwärmerische, einfach schön. Tiina Penttinen singt (und spielt) eine faszinierend bewegliche Magdalene – mit dem fröhlich tumben David (André Riemer) an ihrer Seite. Wagner macht’s dem David nicht leicht. Er fetzt ihm auch schon mal gewaltiges Orchster vor die Stimmbänder. Aber Riemer weiß, wie man Buffo spielt und singt, und sich durchsetzt.

Bleibt Walther von Stolzing. In Heinickes ausgefuchster Konzeption kommt dem „Neuerer“ eine wichtige Rolle zu. Geprobt hat sie Thomas Piffka (der sie auch in den nächsten Aufführungen singen wird). Am Freitag „zollten ihm die Viren keinen Respekt“, wie Generalintendant Christoph Dittrich vor Beginn vor dem Vorhang ankündigen musste. O je…, der Intendant vor dem Vorhang. Nichts oh, je. Wir erlebten mit Daniel Kirch einen großartigen Einspringer. Der Mann hat nicht nur die Rolle drauf (und sie auch ratzfatz wieder in den Gehirnwindungen und im Kehlkopf), der weltweit erfahrene Sänger kann sich auch auf kleinste Zeichen hin anpassen. Kleine Verständigungsabsprachen am Samstagmorgen – die Vorbereitung für eine Rolle wie die des Stolzing sieht normalerweise anders aus. Kaum zu spüren. Kompliment an das Haus, vor allem aber an den großartigen Daniel Kirch. Den wollen wir wieder mal hören…

Eineinhalb Stunden vor der Premiere postete Frank Beermann auf Facebook: „#Meistersinger, mit #Daniel Kirch als neuem Stolzing.“ Fast viereinhalb Stunden Schwerstarbeit lagen vor dem GMD. Alles geprobt. Gut und intensiv. Da würde nichts schiefgehen. Und dann der plötzliche Wechsel. Dass Kirch die Rolle beherrschte, kein Zweifel. Beermann weiß, dass Kirch einer der Besten ist. Ob er sie aber auch so brächte, wie Beermann sie wollte? Machen wir’s kurz: Nach der Premiere griff sich der GMD erstmal ein Bier (Gott, hat er das verdient!) und postete noch von der Feier: „Was für ein Erlebnis! Vielen Dank für eine grandiose Premiere! Jetzt wird gefeiert“ (Und setzte ein Smiley dahinter).

Da war ein großer Stein von Beermanns Brust gefallen. Noch beim tosenden Beifall für ihn und das Orchester konnte er sich noch kaum ein Lächeln abringen… Dabei waren gerade Beermann und die Philharmoniker wieder ein Garant für den Erfolg. Schon das Vorspiel: pompös auf der einen, gleich wieder verliebt lieblich auf der anderen Seite (die von Heinicke zwangsläufig leicht in den Hintergrund gerückte Liebesgeschichte war aus dem Orchester stets wunderbar, bisweilen fast sentimental zu hören). Dann wieder der Choral (kein Bach, aber so gut wie…), oder die Rüpeleifuge – ausgerechnet im wüstesten Teil die geordnetste Musik, die man sich vorstellen kann, Johann Sebastians Musikmathematik auf die Straße geholt – ja, auch das ist Wagner. Viel Glanz, nie schwerer romantischer Schwulst. Großartig die Philharmonie, im Graben und als Bühnenmusik.

Und, last but not least, besonders hervorzuheben: Chor und Extrachor – voluminös und präzise. Dynamisch perfekt. Klasse.

Vor der Premiere wurde eine Ausstellung eröffnet, die den künstlerischen Weg Heinickes seit 1992 nachvollzieht. Die warme Insider-Laudatio hielt Heinickes langjähriger Chefdramaturg Karl Hans Möller, der jetzt in Düsseldorf lebt – „Möllerchen“ nennt Heinicke den Mann immer noch, dem auch er viel verdankt. Schön, dass Möller gekommen war. Und auch Rolf Stiska war gekommen, der Generalintendant nach der Wende.

Für Verabschiedungen ist es noch zu früh. Noch lebt die Spielzeit… Heinicke ist noch gefordert, Beermann macht noch Mahlers Zweite. Aber irgendwann kommen die Jungen ran, die „Neuen“. 1997 hat Heinicke schon mal die „Meistersinger“ inszeniert. Ganz anders. Damals sang Nancy Gibson die Eva. Heute gibt sie als Musikschulchefin ihre Erfahrungen weiter an junge Talente, die (hoffentlich) die alten Meister und Meisterinnen nicht vergessen…

Kleiner Nachklapp: Bei Wagner würden uns Übertitel sehr gefallen…

Die nächsten Vorstellungen: 27. März, 10. April, 17. April, 1. Mai, 8. Mai jeweils 15 Uhr