Chemnitzer Champagnermaus

Wenn Sylvia Schramm-Heilfort auf Facebook richtig gezählt hat, war es die dritte „Fledermaus“-Premiere in Chemnitz nach 1999 und 2008. Sie muss es wissen, sie war immer dabei. Und sie mag sich wie die Ida, die sie diesmal spielt, träumend dastehend mit schwitzenden Augen zurückerinnern an die Zeit, da sie so jung war wie ihr Double Molly Gardiner vom Chemnitzer Ballett. (Sabrina Sadowska, die Ballett-Chefin, hat für diese Produktion eine anmutige auf Spitzen getanzte Choreografie zum eingeschobenen „Sphären-Klänge“-Walzer von Josef Strauß entworfen).

Aber mit den Sphären ist es für uns erdverhaftete Bürger so eine Sache, und mit dem Träumen erst recht. „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist…“, singt Alfred (Hubert Walawski) in einem Moment schopenhauerscher Erkenntnis. Und seine ehefrustrierte Angebetete Rosalinde (Maraike Schröter) stimmt ein in eines der schönsten Liebesduette der Musikgeschichte – und träumt davon, Star zu werden. Doch der Traum endet als Plakat auf der Innenseite des Schranks im Ankleidezimmer, in dem in bester Slapstick-Manier der Liebhaber verschwinden muss, wenn der Ehegatte nach Hause kommt.

Regisseur Johannes Pölzgutter lässt die Gags in unendlicher Reihe fein perlen wie die Bläschen im besten Champagner, manchmal auch etwas derb klauerisch wie in den eher größer blubbernden im Piccolo von der Unstrut – wenn etwa der Hut vom Gefängnisdirektor (Matthias Winter) zur Stolperfalle wird wie der Tigerkopf in „Dinner for one“. Und auch die großartige Sylvia Rena Ziegler kommt daher wie die geliehene leibhaftige Zwillingsschwester von Doris Soffel, dem/der Orlofsky in jener berühmten Covent-Garden-Produktion mit der Kanawa und Hermann Prey vor fast 40 Jahren.

Gags ohne Ende, und jede Kleinigkeit wirkt durchdacht. Zumindest fast. Da sprüht sogar das Bügeleisen Kurzschlussfunken (während Adele munter weiter bügelt) und der Österreichische Doppeladler verschwindet als Hutständer im Nirgendwo.

Aber wenn dann in einer faszinierenden Kaltlichtorgie die eben noch fröhlich ballende Gesellschaft beim wärmst sentimentalen Lied der Operette „Brüderlein und Schwesterlein“  zum lebenden Bild erstarrt, dann ist’s mit aller Traumseligkeit dahin, wie’s Genée, dem Johann Strauß nicht nur den Text verdankt, unnachahmlich in Stein gemeißelt hat: „Lasst das traute Du uns schenken, für die Ewigkeit. Immer so wie heut… Wenn wir morgen noch dran denken“.

Und das Morgen wird sein wie das Gestern. Und so landet Eisenstein am Ende tatsächlich im Gefängnis, im alten langweiligen Ehegefängnis. Die Schweinwelt bricht zusammen, der Menschen Träume bleiben Schäume. Nur die mephistophelischen bruderküssenden Verführer Falke (Georg Streuber) und Orlofsky wissen, dass die nagellackmarkierten Erdenbürger sich immer weiter hineinträumen werden in die unerreichbare heile Champagner-Traumwelt.

Pölzgutter schafft vor allem ernsten Hintergrund der morbiden Tanz-auf-dem-Vulkan-Gesellschaft eines Strauß und Genée im bedrohlich knirschenden Gebälk der Monarchie eine herrlich sprudelnde Scheinwelt mit großartigen Typen. Der Frosch – eine Karrikatur seiner selbst Hardy Hoosmann, der Chef des Fritz-Theaters, perfekt, wie er den Seeadler in den Horst schickt, den Seehofer findet und das Geschenk des bairischen Königs an den sächsischen Freistaat für die Stadt der Moderne auf dem Weg zur Kulturhauptstadt, das Zeichen über die Eingangs-Tür knallt, das nicht christlich, sondern nur kulturell ein Zeichen sein darf, wie es das Bundeswas, Himmel hilf, Bundesverfassungsgericht, endlich hab’ ich’s raus, verordnet hat. Hossmann wird auch Jürgen Mutze gefallen haben, dem unvergesslichen Frosch von einst, jetzt unnachahmlich der stotternde Rechtsverdreher Dr. Blind.

Dass die Premiere vom Publikum so herzlich aufgenommen wurde, lag wesentlich an den Sängerinnen und Sängern, allen voran Reto Rosin, dem Eisenstein. Spielerisch (seine Erzählung vom Fledermaus-Streich – herrlich) und sängerisch durchweg ein Genuss. Sylvia Rena Ziegler, „Ich lade mir gern Gäste ein“, sang ihr „Chacun à son gout“, dass es prickelte. Maraike Schröter (Rosalinde) mit ihrer Csárdás-Glanznummer als falsche Ungarin („Klänge der Heimat“), Herbert Walawski als sockenloser Schmalz-Tenor, Adele (Katharina Boschmann), die mit ihrer hellen Stimme verführerisch ihre „Unschuld vom Lande“ sang und sie spielte, Matthias Winter – glänzend als gekaterter halbfrautütü-Direktor, der Drahtzieher Dr. Falke (Georg Streuber) – was für ein stimmiges Ensemble!

Der Chor sang nicht nur gut, er steckte (vor allem die Damen) in tollen Kostümen von Janina Ammon. Die Bühne (Nikolaus Webern) – zuerst die angedeutete Langeweile eines Ehealltags in drei Zellen eines adeligen Hauses, die sich in das protzige Palais des russischen Fürsten verwandelt, der vor lauter Überdruss am Geld barfüßig und barhäuptig daherkommt, und später ratzfatz in die Kehrseite der Medaille, das Gefängnis, rotiert – passender Rahmen für das muntere Treiben auf der Bühne.

Aus dem Graben dazu eine Musik, die nicht mehr Piccolo oder Schaumwein, sondern Champagner war. García Calvo dirigiert scheinbar mit lockerer Hand. Die brauchten die Streicher der Robert-Schumann-Philharmonie bei den flottspritzigen Tempi, die der GMD vorgab. Calvo hat aber auch ein untrügliches Gespür für Sentiment – und für Effekte. Er lässt die Bässe drohend grummeln und Flöten und Oboen Dissonanzen hinausschreien. Zu Recht besonders herzlicher Beifall für den Spanier, der Wien im Blut hat und Chemnitz und „seine“ Robert-Schumann-Philharmonie lieb gewonnen hat. Wagner, Verdi, Strauss, Strauß – Calvo weiß, was seine Musiker können. Und wie breit ihr Einfühlungsvermögen ist in andere musikalische und geografische Welten. Im nächsten Sinfoniekonzert entführt er uns aus Wien in Spanische Nächte (13./14. Juni).

Die Spanier trinken lieber ihren Cava. Und die Chemnitzer? Die nehmen gern auch mal ein Glas perlenden Schampus mit, wenn er so prickelnd serviert wird wie in dieser „Fledermaus“.

Die nächsten Vorstellungen: 10. und 16. Juni, und dann wieder in der neuen Spielzeit ab 15. September.