Cenerentola: Schweizer Uhrwerk mit italienischer Seele

Der gute Giacomo Rossini hätte in Chemnitz nur eines zu kritisieren gehabt. Dass er nirgendwo seine Tournedos zur Belohnung gekriegt hätte: die wunderbaren Steaks mit Gänseleber dazwischen, weißen Trüffel obendrauf und Madeirasauce zum Schlürfen für die letzten noch unangeregten Geschmacksnerven. Wahrscheinlich hätte er sich sogar zwei Portionen reingezogen, so gut hätte ihm die Chemnitzer Aufführung gefallen. Sie ist Bühnen-Tournedo at ist best.

Rossini war eine Rampensau. Okay, die Zutaten müssen gut sein. Dass seine Noten es nicht wären, daran zweifelt er nie. Aber: das Auge isst immer mit. Und was Chefkoch Kobie van Rensburg in Chemnitz zelebriert, ist moderne Bühnensterneküche auf 3-Sterneniveau. Der südafrikanische Regisseur kreiert aus der 200 Jahre alten Oper ein mitreißendes modernes Bühnenrevuevideomusicalspektakel (lat. spectare = schauen). Da tanzen Buchstaben, küssen sich zu Wortorgasmen, jagen wir nintendomäßig mit durch den gefährlichen Video-Türme-Urwald, da schwebt das mitnichtige Himmel-Bett des Pleiteeselbarons Magnifico namensgerecht großspurig aus den oberen Sphären, King Elvis-Verschnitt Bandini entsteigt einer Nobelraketenkarosse, schwingt seine Hüften zum Rossini-Rock. Die Prinzen-Kutsche aus dem Märchen bleibt im Stall, weil Don Ramiro den Zeppelinflugschein gemacht hat und vom Blitzdonnergewitter runtergeholt wird zu seinem Unterschichtmädchen, das später metamorphosiert zur Königin, so wie ein Chamäleon die Haut wechselt. Klar, auch ein Chamäleon spielt mit, Grillen und Mäuse, ein Gecko – wenn Rossini und sein Librettist Ferretti schon die Fee weggelassen haben, und eher goldonisiert als gegrimmt haben, Rensburg rückt das wieder gerade. Märchen ist Märchen. Und Sabrina Sadowska lässt die Eleven der Ballettschule märcheln.

Rensburg arbeitet präzise wie das Schweizer Uhrwerk, von dem er sprach. Der ausgebildete Sänger lässt sogar die Video-Wolken im Takt fliegen und die Buchstaben im Schlussakkord explodieren oder zwischendurch verknoten, wenn Handlungs- und Musikstränge das verlangen. Jedes Sforzato oder subito pianissimo aus dem Graben findet auf der Bühne seine motorische Entsprechung. Die Texte sind zuschauerfreundlich keine Übertexte, sondern dramatische Exegeten, Buchstabenschauspieler – mitten auf der Bühne. Kein Video, keines der Kulissenbilder illustriert nur. Alles spielt mit. Auch das Licht (Holger Reinke). Und erst recht die wunderbaren Kostüme von Kristopher Kempf.

Ein Kritiker, der bei Rossini nicht mit der Musik anfängt, hat normalerweise einen Schuss. Aber hier muss das sein. Die Chemnitzer Cenerentola-Produktion begeistert zuerst durch eine Bühnenshow, wie sie das Publikum noch nicht gesehen hat. Kobie van Rensburg hat die Videos dafür selbst „gestrickt“. Die Texte (Rossini hätte sich schlapp gelacht vor Begeisterung) sind teilweise genial. Wann hat je das Publikum spontan über Übertitel gelacht? Rensburg spricht ausgezeichnet Deutsch. Aber wir vermuten mal, dass da auch Dramaturgin Carla Neppl ihr immer wieder erstaunliches Sprachpuzzlehirn hat einfließen lassen.

Klar ist aber auch, dass Rensburg gescheitert wäre, hätte die Musik nicht so sagenhaft mitge“spielt“. Nun sitzt bei Rossini ja ohnehin nie ein Musiker – „ham wir ja schon tausendmal gemacht“– gemütlich zurückgelehnt im Stuhl. Bei Rossini ist Sitzstuhlkante angesagt. Geigenläufe, die derart frei liegen, dass selbst Propfenohren Ungereimtheiten hören, Bläsereinwürfe, die so schnell, haste nicht gesehen, Sekundenbruchteile zu spät sein können, Schlussrumse, die hack, aus, fertig stehen müssen.

Ja, okay, war Premiere. Alles nervös. Im Anfang war das manchmal Swatch-Präzision und nicht 5-stelliges-Handmanufakturpreiswerk. Aber dann zauberte Felix Bender (ein Glück, dass wir ihn als Kapellmeister haben) aus der Robert-Schumann-Philharmonie Rossiniblüten, die im Gehörgang explodierten. Traumhaft teilweise. Zumal das ja jede 32tel-Note passen musste zu dem, was oben geschah. (Warum, zum Teufel, versteht der Rensburg so viel von Musik…). Und die oben mussten sich bei den schwierigsten Koloraturen drauf verlassen können, dass nicht nur die Stimmbänder, sondern auch jede einstudierte Bewegung staccatopunktgemäß saß oder sentimentalisch schwang. Große Leistung, starker Beifall. Auch – weil sonst so oft vergessen – für Claudia Lang am Cembalo. Doppelmanualig frei brauchte sie nicht die sonst üblichen Rezitativassistenten Cello und Kontrabass. Hatte man zu Recht weggelassen. Dafür das Orchester geballt platziert, nicht in die Breite gezogen. So konnte (auch mit den modernen Instrumenten) voller, sich hörender Klang aus dem Graben wuchten, mindestens so gut wie sonst bei den heute oft üblichen modernistischen auf alt gemachten  Versionen.

Randall Bills hat den Don Ramiro gesungen. Ein schlanker, wunderbar leichter, aber ausdrucksstarker  Tenor, der (fast immer) die Höhen kopfstimmenreibungslos packt und dazu noch ein guter Schauspieler ist. Seine Cenerentola, Cordelia Katharina Weil, ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied in Chemnitz. Sie hat die Ratschläge der Grande Dame der Cenerentola-Aufführungen, Cecilia Bartoli, beherzigt.  Wer nach fast drei Stunden fast ständiger Bühnenpräsenz im Final-Rondò, der einzigen  großen Angelina-Arie noch voll aus der sonst Mezzo-getrimmten Stimmlage den Aufstieg in Sopran-Regionen schaffen will, muss vorher mit seiner Stimme haushalten. Ihre Schluss-Arie war wundervoll. Zurecht hat das Publikum sie gefeiert. Andreas Kindschuh (Dandini) beherrscht Sänger-Stimmbänder wie Schauspieler-Körper, das wissen wir. In der „Cenerentola“ haben wir ihn, wenn das geht, noch präsenter erlebt als sonst. Ähnliches gilt für Dumdaddel-Don Magnifico Mathias Winter. Wie wir überhaupt den Eindruck hatten, dass diese Aufführung alle Sänger so angeturnt hat, dass sie – im übertragenen Sinn – genauso auf dem Schnäpperchen agierten wie die Musiker im Graben. Kouta Räsänen (Alidoro) war locker wie nie, fuhr mit seiner Arie echt himmelwärts (der Bass!). Und die beiden bösen Mädchen (Tiina Penttinen und – neu im Ensemble- Franziska Krötenheerdt) haben eh musikalisch und schauspielerisch herausragende Rollen. Und die spielten und sangen sie auch – in herrlich sarkastischen Kostümen. Ausgesprochen gut am Samstag auch der Männerchor (Einstudierung Simon Zimmermann) – stimmlich gewaltig und prächtige Charakterstudien nebenbei.

Was das Publikum in der Pause an Wohlwollen und bei Zwischenapplausen nicht ausreichend losgeworden war, hängte es am Schluss an. Begeisterung pur. Lachende Gesichter. Rhythmischer Beifall. Aschenputtel – ein Märchen? Bei Rossini/Ferretti nicht unbedingt. Die Chemnitzer „Cenerentola“-Aufführung jedenfalls ist märchenhaft. Reingehen!

Die nächsten Vorstellungen: 3., 20., 22. Dezember und am ersten Weihnachtsfeiertag

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