Carsten Knödler: Chemnitzer Theaterpreis auch 2016

Der Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik zeigt schon mit der zweiten Folge, dass er Signale in die Gesellschaft setzen will, dass er nicht einem Mainstream folgt, und dass er nicht geschaffen ist, um Preisglanz und volle Hütten zu bescheren. (Desto schöner, dass Martin Bauchs Erstling oft vor ausverkauftem „Ostflügel“ über die Bühne ging). Jan Peterhanwahr, 28, der diesjährige Preisträger, stammt aus Neuenkirchen bei Gütersloh. Er hat im Lauf seiner Ausbildung (zum Gymnasiallehrer für Geschichte und Englisch) in ganz unterschiedlichen sozialen Berufen und Umfeldern gearbeitet, im In- und Ausland. Und dabei spüren müssen/“dürfen“ (wie er es formuliert), dass Statistiken und Mainstreampseudomoral zu oft und zu schnell den Blick auf das Individuum verstellen. Dass der Mensch gleichsam untergeht in Zahlenwogen und (Pseudo-)Moralmorast. Seine Dankesrede für den Preis wurde ein vehementes Plädoyer dafür, im Menschen den Menschen und nicht nur einen Teil der Gesellschaft zu sehen.

Das Thema, das Peterhanwahr gewählt hat, ist heikel. Es geht um Kindesmissbrauch. Zwei Betroffene begegnen sich viele Jahre später, ohne sich zu erkennen. Dramatisch höchst geschickt – bisweilen spannend wie ein Krimi – enthüllen sich Täter- und Opferrolle, bis… Der Ausgang scheint offen. Wir sind gespannt auf die Uraufführung des Stücks am 27. März 2015 im „Ostflügel“ des Chemnitzer Schauspielhauses.

Worüber werden wir dann sprechen, wenn wir rausgehen? Über den „Täter“, dem unsere Moral fremd geblieben ist? Über unzureichende Prävention oder hilflos scheinende Justiz? Über Schuld (nicht nur beim Täter) und Schuldwahrnehmung? Über Hoffnung oder Rache? Warten wir’s ab. Spannend wird das allemal. Das zeigten schon die tief beeindruckenden Szenenausschnitte, die Magda Decker, Uli Blöcher und (der kurzfristig eingesprungene) Ulrich Lenk (Kompliment!), selbst gepackt vom Stoff, lasen. Selbst Jeffrey Goldberg, der sonst in die Tasten hauen kann, dass es kracht, schien nach der Lesung berührt. Goldberg umrahmte die Preisverleihung improvisationsmeisterlich wie immer.

Der diesjährige Preis stand nicht unter einem Motto. Die jungen Dramatiker, die sich am Wettbewerb beteiligten, sollten sich schlichtweg mit der „Moderne“ beschäftigen, heißt: dem möglichen Verlust oder der Profilierung des Ichs im Wir, dem Untergehen oder Gewinnen angesichts von „Social Networks“ und digitalem Medienhype.

Matthias Schluttig, 2. Preisträger mit dem Stück „Social Wurmloch“, griff da voll und direkt hinein: Journalistin, die einen Scoop landen und damit gefeierte Journaille-Heldin werden will, interviewt den „Retter“ eines weltbekannten Filmstars, der alles sein will, nur kein Held. „Ein Machtspiel um Objekt- und Subjektsein beginnt“, schreibt die Jury in ihrer Begründung, „in lebendigen und schlüssigen Dialogen kreist das Stück um ein sehr aktuelles Thema unserer Zeit: die Konstruktion und Dekonstruktion von Heldenmythen im visuellen Zeitalter“.

Manchmal geht es noch nicht einmal um Heldentum. Sondern nur darum, ob unser Herz noch so viel Kraft und Wärme hat, dass es unsere kalte Haut durchdringen kann, die wir doch ach so cool sein wollen. „Irgendwo im Nirgendwo zwischen Himmel und Hölle bewegen sich die Protagonisten in Saskia Nitsches Stück ‚Wir haben kalte Haut‘“, schreibt die Jury. „Die ‚kalte Haut‘ scheint wie eine Eisschicht auf den Seelen zu liegen. Saskia Nitsche beschreibt auf eindringliche Art und Weise in einer dichten Atmosphäre vier Menschen, die kaum mehr fähig sind, irgendetwas zu empfinden“.

Die dritte Preisträgerin, die ebenfalls 28-jährige Saskia Nitsche, schon mehrfach für ihre Arbeiten (Dramatik und Prosa) ausgezeichnet, ist in Chemnitz keine Unbekannte. Mit ihrem Stück „Bitten an Karl“ war sie zum 4+1-Treffen junger Autoren 2012 eingeladen worden. Das Stück wurde später vom SWR als Hörspiel produziert.

Preiswürdig sind alle drei Stücke. Keine Frage. Davon kann sich das Publikum am 10. März 2015 überzeugen, wenn die mit dem 2. und 3. Preis ausgezeichneten Stücke szenisch im Schauspielhaus Chemnitz gelesen werden. Der mit 5.000 € dotierte erste Preis bringt dem jungen Autor auch die erste Uraufführung eines seiner Werke und – jetzt schon sicher – große Aufmerksamkeit. Denn der Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik ist ja schon jetzt eine viel beachtete Erfolgsgeschichte…

Nicht ganz unbeteiligt daran ist der Theaterförderverein Chemnitz „mit seiner monetären und ideellen Unterstützung“, für die sich Jury-Chefin und Organisatorin Kathrin Brune gleich zu Beginn herzlich bedankte. Ihrer Jury gehörten an der Journalist Marcel Pochanke, Schauspieler Stefan Migge, Regisseur Alexander Flache und Johannes Schulze, Vorsitzender des Theaterfördervereins. Mit ihm sprach am Mittwoch-Nachmittag Carsten Tesch in einem mdr-Figaro-Interview zum Chemnitzer Theaterpreis.

Termine:

10. März 2015, Szenische Lesung der zweit- und drittplatzierten Stücke im Rahmen der NACHTSCHICHT „bühne frei“ durch Mitglieder des Ensembles

27. März 2015, Uraufführung des Siegerstücks „Zerstörte Seele“ im Ostflügel des Schauspielhauses