Das Irgendwo des Hier und Jetzt direkt vor der Nase des Zuschauers, nicht oben auf der Bühne, wovon man sich so fein distanzieren kann, das Nirgendwohin im nebelwabernden unendlichen Weit des schwarzen Zuschauerraums. Puppen, die menschlicher sind als Menschen; Straßenkehrer, die sich wie Lemuren ins endenwollende Menschenleben winden, ekstatisch totentanzen und den Müll entsorgen, der Mensch war; gescheiterte Egomanen wie Casanova, die im Alter als düpierte Deppen stolzieren, auch wenn ihr Machtwerkzeug über die Frauen schlafft, die Samenleiter ausgetrocknet sind, nur noch die Mundwinkel sabbern, und die Kameliendame sich einen jungen Spritzer sucht. Harter Stoff, den Williams den Zuschauern in seinem sarkastischen Welttheater zumutet.
Was Williams eigentlich wollte, darüber stritten sich die Kritiker schon nach der Uraufführung vor mehr als 60 Jahren am Broadway. Die einen sahen ein pessimistisches, wenn nicht gar nihilistisches Machwerk einer Generation, die nicht wusste wohin, nach dem Weltkrieg. Die anderen sahen das Spiegelbild des menschlichen Lebens, in dem die Gesellschaft so oft das eigene Wollen vergeigt, das Individuum sich zu einem Spielball machen lässt.
Irgendwer muss Carsten Knödler den Spruch „Kilroy was here“ eingepflanzt haben – eigentlich ist er zu jung dafür. In den 40er- und 50er-Jahren prangte überall ein Graffito-Vorläufer nach amerikanischem Vorbild – ein einfach nachzuzeichnendes Strichkopfmännchen mit dem Zusatz „Kilroy was here“. Diesen Kilroy gab es nie. Aber er war überall, wohin auch amerikanische Soldaten kamen. Auch in (West-)Deutschland zierte der Spruch Mauern und Schulhefte, wie jetzt die Rückwand der Bühne im Schauspielhaus und das Graffito das Programmheft.
Kilroy ist auch eine Figur bei Williams. Sogar eine Hauptrolle. Aber das ist nicht das Hauptding: Das Kilroy-Graffito hieß: Was zum Teufel du auch immer willst, oder wohin, du bist nichts Besonderes, vor die war schon einer da: Kilroy. Carsten Knödler interpretiert Williams als – ja, eher pessimistischer – Menschenversteher. Was auch immer wir tun in unserem Leben, wir würden wieder sein wollen, wie wir waren. Und wünschten, dass andere uns dafür schätzten oder uns gar ein Denkmal dafür errichteten.
Das Stück wird möglicherweise deshalb so selten aufgeführt, weil es keinen Ausweg zeigt und im Surrealen bleibt. Weil auch im Alter der Vogel der Erinnerung so an unserem Herzen pickt, wie es im Stück heißt, dass wir zu Einsicht oder Umkehr oder Andersmachen nicht in der Lage sind. Weil wir nicht eine fertige Schöpfung sind, sondern uns noch im „Laboratorium Gottes“ als Versuchstiere behandeln lassen. Weil wir, obwohl wir es doch besser wissen sollten, im Alter nicht klüger werden, sondern nach wie vor glauben, dass „Veilchen Felsen sprengen“ und der Mond sexsüchtige Zigeunermädchen wieder zu Jungfrauen machen kann. Und so bleibt Casanova ein Casanova, auch wenn er längst nicht mehr kann. Und Lord Byron schmalzt weiter Liebeslyrik, auch wenn ihm längst der Griffel aus der Hand gefallen ist. Nur Don Quichote und der Ex-Boxer Kilroy entkommen der Vorhölle des Camino Realität, weil sie eh einen Hau haben. Der eine, weil er noch nie was anderes getan hat, als gegen Windmühlenflügel zu kämpfen, und der andere, weil sein kindskopfgroßes Herz schon bei der leisesten menschlichen Regung, einem zarten Kuss, vor Emotion platzen könnte.
Carsten Knödler und sein Team machen aus diesem Pessimismus-Thriller ein wunderbar theatralisches „Sapere aude!“-Stück. „Wag es zu denken“, sagt es uns mit dem Horaz-Zitat, das Hannah Arendt aufgegriffen hat, und das zum diesjährigen Spielzeit-Motto („Niemand hat das Recht zu gehorchen“) gehört. Wenn Du Dich wehren willst, wenn Du ungehorsam sein willst, musst Du es erst gegenüber Dir selbst sein.
Ja, die Einsicht kommt oft spät, vielleicht erst im Alter. Aber Knödlers „Camino real“ ist kein Stück über das Alter, es ist ein Stück über das Leben – und alle, die sich durch die Werbung und die Rollatoren-Bilder abgehalten fühlen, hinzugehen: pfeift drauf! Schaut es Euch an. Da geht es nicht zu wie im Altersheim. Da spielt Leben pur.
Da balanciert –Wunder! – Philipp Otto auf (mindestens) 12cm-Plateau-Higheels wie die perfekte Transe (großartige Kostüme bis ins kleinste Detail: Ricarda Knödler) und gibt hinterher den Blaublut-Lord mit blauen Schuhen wie Höchstderoselbst. Da haut sich Ivan Cheranev vom Ballett so ekstatisch auf die Bretter, dass Du blaue Flecken spürst. Da singt Muriel Wenger zur Mandoline (Musik: Steffan Claußner) mit seherisch starren Blind-Augen (geschlossene Lieder mit Pupillen geschminkt – nur ein Beispiel für tausend Kleinigkeiten, an die das Regieteam gedacht hat) – herzergreifend als spanisches „Mütterchen der Verlorenen“. Da lässt sich Magda Decker vom (Bühnen-)Himmel hoch auf das harte Hockerlager sinken und die Jungfernschaft erneut kaputtmachen (wird der Mond schon wieder reparieren) – wir hatten eher Angst um ihre Wirbelsäule. Susanne Stein zigeunert erdschmutzdreckig klasse herum, wie sie dereinst königlich richardisiert hat – was für eine Wandlungsfähigkeit! Der vergeblich gewordene Casanova Wolfgang Adam befummelt vergeblich die stolze Klunker-Kamelie Christine Gabsch, die sich nach allen Regeln der Kunst aus- und über den Tisch ziehen lässt. Bei Philipp von Schön-Angerer muss man wie immer drauf achten, wann er sagt, wie er spielt: er verschmilzt mit der Rolle so, dass wir – aha, er hat das kaputte Kinderkopfherz – schon Minuten vorher ahnen, da ist einer kaputt (zu Recht ein Bravo am Schluss). Da spielt Martin Valdeig vom Gutman (Gut-Mann!) bis zum Pfandleiher und Tod gefühlte 26 Stimm- und Sarkasmus-Variationen den brechtschen (hoppla) epischen Erzähler. Die je drei Damen und Herren des Balletts schönen die Drecksarbeit des Entsorgens von menschlichem Müll, schonen sich aber keine Sekunde (mutige Choreografie von Sabrina Sadowska). Und die Puppenspieler Sophie Bartels und Arne van Dorsten geben mit den wunderbaren Lord- und Lady-Puppen (Bau: Atif Hussein) die einzigen Weisen. Manchmal weiß man als Zuschauer gar nicht, wohin schauen, dass man nichts verpasst: den Glöckner-Verschnitt von Dominik Förtsch oder die Ratte „A.Ratt“ im Stück von Christoph Radakovits oder dessen „Amme“. Wir hören auf…
Licht, Ton, tolle Bilder aus dem Zuschauerraum-Nebel, intime Szenen, Vollblut-Theater – das Stück hat seine Schwächen. Wir müssen nicht 16-mal hören und sehen (der Camino hat 16 Stationen), dass Menschen sich nicht ändern (wollen). Aber was Carsten Knödler und die ganze große Truppe aus dem Williams gemacht haben: Hut ab. Der große Aufwand lohnt sich (fast) jede Sekunde. So soll/kann Theater sein. Großartig. Viel Beifall.