Im Chemnitzer Rathaus, in der Wandelhalle, ist die Akustik verblüffend gut, wie GMD Beermann, der wieder ein kleines, feines, interessantes Kolleg zu Schubert hielt, feststellte („wie wenn Sie zuhause die Anlage aufdrehen“). Jeder noch so leise Ton war zu hören (jedes Husten desto lauter), Hartwig Albiro konnte seine Stimme zurücknehmen, spielen mit ihr und der Dramatik, die Härtling in seinen Schubert-Roman hineinkomponiert hat. Die Wandelhalle könnte öfter Kammermusik-Bühne werden…
Aber nicht deshalb wurde das Rathaus ausgewählt. Die Idee dazu entstand, als vor einem Jahr die Musiker hier versuchten, die Stadträte zu gewinnen. Für das Orchester. Nicht den Sparhammer auf die teuren Instrumente krachen zu lassen. Wir wissen, wie es kam. Durch die Entscheidung des Stadtrates wurde zwar der „Frieden“ gewahrt, der Zuschuss leicht erhöht, aber das Orchester muss Opfer bringen. 13 von den 99 Stellen sind auf Dauer nicht mehr sicher. Ob es dann noch Kammermusik dieser Qualität neben den Alltagsaufgaben auf Podium und in der Oper geben wird? Großes Fragezeichen…
Es waren Stadträte da, von denen wir wissen – erst recht nach diesem Abend, dass die Robert-Schumann-Philharmonie keinen Schaden nehmen darf. Dieses wunderbare Orchester, das für die Stadt so wahnsinnig ausstrahlt, das durch die neuen CD-Aufnahmen in der ganzen Welt bekannt ist und Chemnitz bekannt macht, das jetzt – vor der Schubertiade in Chemnitz – nach der langen Saison den Schubert-Zyklus in Hamm quasi schon generalprobierte, das jetzt noch zu Konzerten ins Schloss Neuschwanstein reist und nach Bayreuth. Die Musiker lassen sich nicht von der Sparkeule erschlagen oder in die Angstecke drängen. Sie geben alles, auch in der Höhle des Löwen.
Wo, das fiel auf, die Löwin fehlte… Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig, die Schirmherrin der „Begegnungen mit Schubert“, war bisher immer verhindert, und auch beim Heimspiel in ihrem Reich nicht da.
Der „genius loci“ ist im Rathaus schwer auszumachen. Er schwabert als Spargeist durch die Gänge, immer und immer. Aber die Gänge beheimaten auch einen anderen genius: den der Schönheit (nicht nur im Klinger-Bild im Ratssaal) und eines kunstsinnigen Bürgertums, das sich in Chemnitz, als es noch nicht Stadt der Moderne hieß, an der Spitze der Zeit bewegte. Das ein repräsentatives Rathaus baute (und nach der furchtbaren Zerstörung der Innenstadt) früher wieder aufbaute als Wohnungen. Die Chemnitzer sehnten sich nach einer würdigen Repräsentanz für ihren Stolz. Bürgerstolz. Wer mit seiner Industrie Weltmarktführer ist, will nicht von einem Schuppen aus „regiert“ werden…
Schubert, der Bürger, der Mensch der neuen Zeit, der Romantik, nicht mehr abhängig von eigenbrötlerischen und bisweilen grausamen Potentaten wie noch seine Vorgänger in der Klassik, hier im Rathaus: der genius loci hätte in die Hände geklatscht, könnte er es. Schubert, nicht mehr der Klassiker seiner frühen Sinfonien, der neue Mensch, der ganz moderne, mit seinen Gipfelwerken der „neuen“ Musik im Rathaus…
Es war, als ob Hartmut Schill, Ovidiu Simbotin, Violinen, Matthias Worm, Bratsche, Tilman Trüdinger, Cello, das Robert-Schumann-Quartett (später im Quintett am zweiten Cello noch der unermüdliche Jakub Tylman) beflügelt wären von dieser Aura im Rathaus: sie spielten den Schubert einfach himmlisch, irdische Erbsenzählerei vergessen machend. Das Rosamunde-Quartett – das erste (und einzige) Quartett Schuberts, das öffentlich zu dessen Lebzeiten aufgeführt worden war. Und das Streichquintett – die Krönung von Schuberts kammermusikalischen Ideen, kurz vor seinem Tod entstanden, und eines der schönsten und größten Werke der Kammermusikliteratur.
Sie standen zusammen wie ein Mann – keine Sparaxt sollte sie je teilen können. Schill nahm sich im Rosamunde-Satz des Quartetts so zurück, dass niemand eine Vorherrschaft irgendeines Primarius hätte ahnen können. Sie spielten jede noch so kleine dynamische, spannend machende Vorgabe Schuberts, setzten die ungewöhnlichen neuen Akzente, wie Schubert sie eingeführt hatte, bei denen der Auftakt betont wird und nicht die folgende „eins“. Sie legten Klangteppiche unter und über die zarten und harschen Melodien, sie begleiteten punktgenau mit den fast groovenden Pizzikati, sie hauten die Dissonanzen rein (Gott, kein Mensch denkt da mehr an Mozart oder Haydn, das ist ganz neue Musik), sie hörten jeder rhythmischen Gegenbewegung nach, die schon auf Nachfolger wie einen Dvořák hinwies…
Großer Beifall, Steigerung nach dem Quintett, Bravo-Rufe noch und noch im sonst so stillen Rathaus, Samstagabend kurz vor Zehn. Schubert in der Gesellschaft – der „politische“ Komponist, das war eine der Ideen, die Beermann rüberbringen will mit diesem kleinen Festival, wie er am ersten Abend in der Markuskirche sagte. Das ist am Samstagabend einzigartig gelungen. Seine Musiker krönten Schubert. Und zeigten, dass Musik und Kultur in das Bürgertum gehören. Als stolzer Besitz. So wie das Rathaus.
Jetzt gleich, heute früh, das Straßenbahndepot… Musik war noch nie eindimensional. Trotzdem: Straßenbahn versus Kutsche: passender Rahmen für den Bürger Schubert. Und die Chemnitzer. Und deren Stolz.