Camus‘ Caligula ist auf den ersten Blick ein Schwein, ein Monster. Wenn Leben sowieso auf den Tod hinsteuert, welchen Sinn hat es? Und wenn Tod und Schicksal überwindbar wären? Wenn man die absolute Freiheit hätte? „Ich brauche“, sagt Caligula, „den Mond oder das Glück oder die Unsterblichkeit. Etwas, was nicht mehr von dieser Welt ist…Ich habe begriffen, dass es nur einen Weg gibt, um den Göttern zu gleichen. Es genügt, ebenso grausam zu sein wie sie.“ Und so lässt Camus seinen Caligula morden und vergewaltigen – alles aus dem Wege räumen, was Freiheit des Andersdenkenden wäre. Am Schluss lässt Caligula sich selbst umbringen. Akt größter Freiheit?
Camus‘ Caligula ist ein moralisches Stück. Der Franzose, in Algerien aufgewachsen ist nicht Existentialist wie sein langjähriger Freund Sartre, oder Nihilist. Aber an Gott glaubt er auch nicht. Er glaubt an den Menschen. An den Revoluzzer für Recht und Gerechtigkeit. Wie einen Che Guevara (aber der lebte viel später). In seinem Buch „Die Pest“ hat Camus so einen „Heiligen ohne Gott“ beschrieben: den Arzthelfer Tarrou. Caligula ist der Gegenentwurf: der Gröfaz-Revoluzzer, der gottlose Unheilige.
Camus erhebt aber nicht den Zeigefinger. Wir kapieren auch so, was er meint. Und das ist das Verdienst des Regieteams, gewiss. Aber vor allem das von Stefan Migge. Wie er da aus den Zuschauerrängen heraus uns alle mit einbezieht in sein Leben („lassen Sie ruhig, bleiben Sie sitzen“), vor allem aber in sein Denken („Verrückt, nicht?“), das lässt keinen ungerührt. Migge ist Caligula ist Schauspieler, Regisseur – wie dereinst der römische Kaiser. Er schiebt die Figuren hin und her. Ist der Mächtige und der Armselige, der nachts nicht schlafen kann. Weil, auch den Schlaf beherrscht er nicht. Wie er den Mond nicht kriegt, oder besser Frau Luna, mit der er sich gern paaren würde. Das Firmament auf die Erde holen.
Migge vor dem Spiegel: bin ich das? Migge als Venus auf der Leiter – die pure Verarsche der Dummdödel aus der Patriziergilde. Die merken noch nicht mal, dass ich einen Pimmel habe…
Die einzig nicht so ganz dezente Stelle, die sich Regisseur Robert Czechowski und sein großartiges polnisches Leitungsteam leisten. Sieht man mal von den Arschlöchern ab, die die „Ratten“ präsentieren. Himmel, was malt dieses Team für Bilder. Die Patrizier im Rollstuhl und am Rollator, kriechend und sich schüttelnd. In der Curie, die aussieht wie ein Irrenhaus. Und wo die Verrückten von Ratten-Fleischern (die Ratten – Todbringer in der „Pest“. Czechowski hat seinen Camus intus) „behandelt“ werden. Alles und jedes Bild hat Bedeutung. Die Pfeifen von Chefs mal nicht nur hinter dem Schreibtisch, sondern dort, wo sie hingehören. „Dieser Spasti“, hörte ich kürzlich an der Zentralhaltestelle von einem jungen Mann über einen anderen, mit dem er über Kreuz lag. Auch Patrizier sind Spastis.
Und wenn sie ihre Prozession durch die Zuschauerreihen machen, diese Schleimkriecher, dann kriegen wir fast Mitleid mit diesem Caligula, dem Bösen, der weil er frei von gesellschaftlichen Zwängen sein will, fast schon wieder der Gute ist. Migge, verkleidet, flüsternd (manchmal fast zu sehr), der „Logische“ – die Logik des Bösen, Fleurs du mal, Baudelaire, kommt uns in den Sinn, vom Donnerstag in Dutilleux‘ Cellokonzert. Wahnsinnsleistung von Migge, mehr als zwei Stunden auf der Bühne, in hundert Rollen, die doch nur eine ist, irre…
Die anderen Figuren haben es schwer gegenüber diesem Ausbund an Schauspielerei. Ulrike Euen als Caesonia kann mithalten. Als starkes Opfer, als gewollte Unterliegerin, als Verführerin – auch ein „Freier“ braucht einen Widerpart, Caligula kann nicht Eremit sein.
Noch anders Helicon – Philipp von Schön-Angerer. Der Ex-Sklave. Die Ratte, die Gott Caligula zum Menschen (zum „Freien“, zum liber, wie das damals zu Römerzeiten hieß) gemacht hat. Ihm kann keiner. Er ist frei, wenn auch auf einer niedrigeren Ebene als Caligula. Dauernd spielt er mit der Perlenkette, alles schon dagewesen. Was machst du, Caligula, Traumtänzer?, heißt das. Du kannst morden, soviel du willst. Du änderst nichts. Helicon überschätzt sich nie. Wirft am Schluss den (Rosen-)Kranz weg. Es kam, wie’s kommen musste…
Philipp Otto spielt den Cherea. Wichtige Figur im Camus’schen Figuren-Kontext. Der Einzige, der ein anderes Lebensbild entwirft: er will Gerechtigkeit. Ordnung. Vielleicht sogar Freundschaft. Das Gegenbild zu Caligula, dessen Freund er einst war, und den er jetzt umbringen wird. In Tyrannos! Unsere Welt ist nicht irre.
Einer noch: Scipio. Michel Diercks spielt den Poeten, den Urheber, sich kleinmachend, am Rande. Dem präpotenten Schauspieler Caligula ist der Autor Wurscht – aber ohne ihn kommt er nicht aus. Er ist der einzige, der Denkwelten neu aufstößt, etwas denken oder schaffen kann, was nicht von dieser Welt ist. Michel Diercks zelebriert die Welt des armen Poeten, des einzigen, der reich ist. Weil er denken kann.
„Wir müssen zumindest anerkennen, dass dieser Mann einen unbestreitbaren Einfluss ausübt. Er zwingt zum Denken“, steht groß auf dem Vorsatzblatt des Programmhefts. Gemeint ist Camus. Sein Caligula macht uns zu schaffen. Manche Zuschauer waren irritiert, andere legten um Herz und Verstand einen Stacheldraht („so ein Irrsinn!“ und diese ständige Musik) oder dachten beim Anblick der irren Patrizier in Uniform an so manche Funktionäre der Vergangenheit, bei denen der Gehapparat funktionierte, dafür der Verstand am Rollator ging.
Aber den meisten tat richtig weh, wie mit Menschen umgegangen werden kann. Wenn Figuren aus dem Vorhang hervortreten und Menschen werden wie Du und ich, oder der Flüchtling, oder der Asylant. Die von modernen Caligula-Chefs oder Pegidapatrizierdumpfbacken behandelt werden wie Ratten.
Was bin ich, was mache ich, ist das gut, was ich tue? Wer zwingt mich? Warum darf ich mich nicht frei entscheiden? Die „Caligula“-Premiere fand statt am Chemnitzer Friedenstag. Vor 71 Jahren flogen Bomber über die Stadt. Und vielleicht hat sich der eine oder andere Pilot, ehe er auf den Bombenknopf drückte und aus dem Schacht tausendfach Tod auf die Erde schickte, das auch gefragt…
Im Premieren-Publikum saß auch Hasko Weber, einst Schauspieler auf der Caligula-Bühne, auch er ein Mann der Revolte. 7. Oktober 1989 – der Text von der Rampe, den Hartwig Albiro damals verlas, stammte zu großen Teilen von Hasko Weber… Heute ist Weber Intendant des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Kennt sich mit schwierigen Stücken aus. Hat eben Faust II gemacht. Der kommt nicht wegen einer Operette nach Chemnitz. Er kam, weil er ahnte, dass hier Besonderes anstand. Er hat sich nicht getäuscht. Der Chemnitzer „Caligula“ ist eine der beeindruckendsten Aufführungen der letzten Jahre. „Sensationell“, wertete gratulierend Hartwig Albiro das Erlebte gegenüber Intendant Christoph Dittrich. Der ehemalige Schauspieldirektor muss es wissen…
Nächste Aufführungen: 5., 11., 19., 24. März, jeweils 19.30 Uhr, Schauspielhaus
Das Video zum Stück