Knödler, Otto – einer gehört gleich noch dazu: Ulrich Lenk als Häuptling Bromden. Geschickt gemacht: Als die Schauspieler am Schluss den Beifall entgegennahmen, kam Otto, der McMurphy im Stück, zunächst mit seinem Widerpart, der Ob(e)r(igkeits)schwester Ratched (Maria Schubert) auf die Bühne. Vordergründig, wie erwartet. Beim zweiten Mal traten Philipp Otto und Ulrich Lenk gemeinsam vor den Vorhang, den es nicht mehr gibt. Das hat Sinn. Der Häuptling ist McMurphys Seelenverwandter. (Im dem Drama und dem Film zugrunde liegenden Buch wird die Geschichte übrigens aus der Sicht des Häuptlings erzählt). McMurphy hat dem Häuptling wieder ein würdiges Leben geschenkt, ihn, den von der Gesellschaft Geduckten, wieder „groß“ gemacht wie seinen Vater. Der nun wieder „große“ Häuptling erstickt das unwürdig gewordene Leben McMurphys, weil dieselbe Gesellschaft den großen McMurphy „klein“ gemacht hat. So soll der nicht vegetieren müssen. Die beiden sind die Protagonisten, die Individuen, die die Geschichte bestimmen. Alle anderen sind Gebrauchsartikel der Gesellschaft: die Irren ihr Müll, Oberschwester und Arzt (Wolfgang Adam) ihre Glanzwerbung, der die Produktenttäuschung folgt.
Carsten Knödler ist ein sehr präziser Regisseur. Er gibt den Affen Zucker, wo möglich, und bringt den Saal vor Lachen zum Kochen. Und er ist feinfühlig, dass man es manchmal eher spürt als sieht. Noch im Programmheft mit Bildern von der Probe fühlt Oberschwester Ratched dem willenlos gemachten, teilhirnamputierten McMurphy den Puls am Handgelenk. Bei der Premiere streichelte sie ihm zärtlich dafür den Hals. Dieser Eisblock von Frau kann noch menschlich fühlen. Ist vielleicht sogar ein bisschen verliebt in den wahrscheinlich einzigen Mann, der ihr je an die Bluse und drunter gegangen ist. Wenn hier auch ziemlich gewalttätig. Auf jeden Fall ist sie aufgewacht. Der Eisblock angetaut. Tiefgefrorene Schichten des Unbewussten kommen ans Licht. Immer nur funktionieren? „Hier bin ich Mensch“…
Im Film spielt Louise Fetcher ein ordnungsfanatisches Stabsfeldwe(i)bel, knallhart zum Kotzen. Knödler besetzt die Rolle (überraschend auf den ersten Blick) mit Maria Schubert, die bei aller Strenge eher zart ist – sie funktioniert, aber sie spürt, dass es da noch was anderes gibt, ist nicht nur Gehorsamsmaschine. Scheint zu trauern über den einzigen Menschen, den sie kennen gelernt hat, der nicht nur ihr Befehlsempfänger ist, und den sie nun kaputt gemacht hat. Knödler und Maria Schubert legen die Figur an ambivalent wie das ganze Stück. Nichts ist, wie es scheint.
Im englischen abzählreimenden Kinderlied, das die Anregung zum Titel gab, fliegt vom Dreierschwarm der Gänse eine nach Westen, die andere nach Osten, die dritte über das Kuckucksnest. Ist das so? Gänse fliegen im Schwarm immer in eine Richtung. Und der Kuckuck baut kein Nest… Nichts ist so, wie das Lied singt.
Philipp Otto spielt einen McMurphy, der genauso ein verdammter Gesellschaftsidiot sein kann wie die Oberschwester, der aber auch fast heult, als die angeblich Irren ihn zur Flucht auffordern (die hier – gut gemacht – durch die Oberfenster ja möglich ist. In der Vorlage müsste gleich ein gewaltsamer Ausbruch organisiert werden). Er haut nicht ab und lässt seine „Freunde“ nicht im Stich, auch wenn’s ihm selbst an den Kragen geht.
Das tut auch Dale Harding nicht (Marko Bullach), ganz am Schluss. Noch so ein bestechender Knödler-Einfall: In Buch (Dale Wassermann nach dem Roman von Ken Kesey) gibt es diese dritte Person nicht. Der Häuptling lässt den von ihm erstickten (und damit vor der „normalen“ Gesellschaft geretteten) McMurphy im Stich und macht sich auf in eben diese Gesellschaft – Ausgang ungewiss. In Chemnitz steht der frühere Oberirre Dale Harding am Fenster. Wir hören die Martinshörner, er flieht nicht. Vielleicht verhaften sie ihn als Mörder. Aber soll er sich wieder der Norm unterordnen, mit der er früher nicht fertig wurde, mit der man aber fertig werden kann, wenn man Mensch ist, Individuum, wie McMurphy todesmutig gezeigt hat? Wie sieht das bei uns aus? Wollen wir verrückt sein oder normal? Doofe Schafe bleiben?
In dem so zweckmäßig wie klaren Bühnenbild von Frank Heublein entfachen Carsten Knödler und das Ensemble (17 von 20 Schauspielern!) ein komisch und tragisches Feuer den ganzen Abend über. Jede und jeder ist und bleibt ein „Typ“, stotternd, nagelkauend oder hosenpissend. Nichts übertrieben, aber alles auf den Punkt genau. Jede Pointe sitzt. Das Publikum lacht sich (besonders vor der Pause) angesichts dieser Spiellust halb schlapp. Wippt mit zum Rhythmus der Putzband (musikalische Einrichtung Steffan Claußner), amüsiert sich über die krummen Waden der Irren im Nachthemd (Kostüme: Ricarda Knödler), vor allem aber fühlt es von der ersten Sekunde mit McMurphy mit, dem großartigen Philipp Otto, der – an seinem Geburtstag – eine glänzende Leistung auf die Bretter brachte.
Ob er später noch feiern würde? „Nein. Gleich heim, unter die Dusche, und dann ins Bett“, bemerkte er bei der Premierenfeier im Exil (bei der – leider – die laute Musik wieder fast jedes Gespräch unmöglich machte. Warum nicht erst später Platten auflegen?). Nicht nur Philipp Otto – der sich wie manche Kollegen in den romantischen Exil-Garten ins Freie verzogen hatte, wo sie auch auf Bogdan Koca trafen, den Regisseur des „Hamlet“, mit dem die Chemnitzer Truppe zum sächsischen Theatertreffen nach Leipzig fährt – ging’s so. Die Chemnitzer Schauspieler hatten alles gegeben.
Da machte sich ein bisschen Neid und Heimweh breit unter den Theaterfreunden aus Zittau, die extra mit dem Bus angereist waren, um die Schauspieler und deren Direktor zu sehen, die noch vor einem Jahr „ihre“ waren.
Das großartige Ensemble: Ulrich Lenk, Marko Bullack, Fabian Jung, Christian Ruth, Philipp von Schön-Angerer, Stefan Migge, Gregor Kuhn, Philipp Otto, Martin Valdeig, Felician Hohnloser, Maria Schubert, Wolfgang Adam, Kristin Steffen, Stefan Schweninger, Magda Decker, Bianca Kriel, Steffan Claußner.
Die nächsten Aufführungen: 16. und 26. April, 3. und 31. Mai
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