Der Komponist hat empfohlen, die Dritte immer am Anfang zu spielen. „Sie würde sonst“, ist von Beethoven zur Dritten überliefert, „wenn der Zuhörer vom Vergangenen bereits übermüdet ist, von ihrer Wirkung verlieren.“ Hat sie nicht. Aber es war ein Kampf auf Messers Schneide.
Die Akustik im Opernhaus ist nicht eingerichtet für das Orchester auf der Bühne. Bei der Probe wurde immer wieder umgestellt. Schließlich saßen die Musiker so eng wie selten oder nie sonst. Trotzdem: Die strahlenden Hörner waren strahlend nur im Parkett, nicht im Rang. Auch die Geigen blieben eher „unten“. Die Zuhörer im seit Tagen ausverkauften Opernhaus hatten einen langen Arbeitstag hinter sich. Die Musiker schon acht Sinfonien in den Fingern, den Lippen, den ermüdeten Bogenhänden. Und trotzdem: Die Dritte „war so eindrucksvoll“, wie eine Zuhörerin beim Rausgehen zu ihrer Nachbarin sagte. Recht hat sie. Der Beifall kam nach gebannten Sekunden. Keine Bravi. Kein lauthalser Applaus. Aber ein langer, ein ehrlicher für die Helden auf der Bühne, die sichtbar müde waren nach dem Neun-Sinfonien-Marathon in zwei Wochen. Die zur Dritten noch einmal alles gegeben hatten.
Versuch einer Analyse, warum der Schluss mit der Dritten gut war: Beermann dirigierte auswendig. Er kennt das Stück in und ebenso. Er weiß, warum er die Tempi so schnell nimmt. Er weiß, dass er bei schnellen Satzanfängen hohes Risiko fährt. Dass das kaum immer hinhauen kann. Dass aber die Stimmung notwendig ist, die Atmosphäre. Soll uns keiner weismachen, dass Beethovens Musiker besser waren, oder gar technisch versierter als die Robert-Schumann-Philharmonie. Beethovens Musiker hatten alle noch aus Leopold Mozarts Violinschule ihr Handwerk gelernt. Sie waren keine Hochleistungs-MP3-Artisten. Beethoven wollte Wirkung, Stimmung, Atmosphäre. Das hat Beermann mit der Robert-Schumann-Philharmonie geschafft.
Es gab die traumhaften, kleinen, aber wichtigen Übergangs-Stellen, wo (z.B. die Celli) in das neue Thema hineinplatzen können, wenn sie nicht aufpassen. Und bei der Vielzahl der Themen (erstmals in einem Sinfonie-Satz nicht nur zwei!), war die Gefahr groß. Passierte kein einziges Mal.
Im Scherzo (kein Menuett mehr bei Beethoven) ist das Trio der Alptraum aller Hornisten. Da müssen die drei eine Jagdweise spielen. Hört sich ganz einfach an. Konzert-tötend, wenn’s daneben geht. Es ging nicht daneben. War einfach gut. In einer simplen Stelle in der Coda (Schluss) des ersten Satzes ging’s mal daneben. Dort hat’s keinen gestört.
Der zweite Satz ist ein Trauermarsch. Von Beethoven auch so überschrieben (Marche funèbre). Beermann nahm ihn schnell. Vielleicht ein bisschen zu schnell. Ist ja kein schneller französischer Revolutionsmarsch, dessen Ohrklänge ständig sonst in die Sinfonie (Schluss vierter Satz) hineindrümmeln. Die Todesklage in der Oboe (der Tote spürt nichts mehr vom Tod. Wohl aber die Trauernden) braucht Ruhe. Sie kommt aber nicht unbedingt aus Langsamkeit. Aber daraus, ob (im zweiten Thema) die Zweiunddreißigstel hektisch über die Saiten gefegt oder im – schnellen – Tempo zum (für die Hörer nachvollziehbaren) Klingen gebracht werden. Mitsingbar, nicht technisches Hexenwerk.
Der vierte Satz mit seinen Variationen ist delikat, weil da die unterschiedlichen Stimmen miteinander konzertierend (oder kontrapunktierend) übereinstimmen müssen. Und – o Wunder – da kam die Akustik der Oper gerade recht. Selten wohl haben die Musiker während des Zyklus einander so gut gehört…
Vor der Dritten die Erste. Im letzten Konzert des Zyklus. Die Erste wird gern in der Nachfolge von Haydn und Mozart interpretiert. Vieles kennen wir. Stimmt. Besetzung, Struktur (bei allen Beethovenschen Neuerungen). Aber eins bleibt offen: Wenn Beethoven seit seiner Verliebtheit in das Mälzel-Metronom so schnelle Tempi vorgab (und wir annehmen müssen, dass er sie selbst auch so dirigiert hat), hat dann Mozart auch so schnell gespielt? Können wir uns die Jupiter-Sinfonie oder die große g-mol-Sinfonie Nr. 40 so schnell vorstellen? Oder hat Beethoven auch, was das Tempo angeht, etwas ganz Neues den Hörern um die Ohren geknallt?
A props „schnell“: Manchmal wünscht man sich als Streicher wahrscheinlich, Dirigent zu sein. Heikle, ganz offen liegende, filigrane hohe Stellen in den Geigen, im Scherzo und zu Beginn des vierten Satzes, wo auch noch die schwierige Tempogestaltung dazu kommt – das waren Höhepunkte des Konzerts. Die Flöten-Antworten auf schnelle Geigenstellen – das hat alles gepasst.
Beermann, nie abgeneigt, für einen Effekt auch mal ein Opfer zu bringen, hat im Schluss-Konzert des Zyklus auf die großen Effekte verzichtet. Er hat nicht die Fünfte gewählt, oder die Neunte. (Sie muss – allein aus Marketing-Gründen – immer am Anfang stehen). Er hat zum Schluss ein Programm gewählt, das keine Ovationen im Stehen provoziert. Aber Eindrücke hinterlässt. „Diesen Zyklus werden wir so schnell nicht vergessen“, sagte ein musikbegeisterter Besucher beim Heimgehen. „Ich schau mir jetzt Fußball nicht mehr an“ (Hat er auch nichts versäumt. Außer dem Elfmeter-Krimi war das nicht sehr spannend, was Portugiesen und Spanier da abgeliefert haben).
Fazit des Beethoven-Zyklus: Die Robert-Schumann-Philharmonie hat gezeigt, warum sie für Chemnitz so wichtig ist. Chemnitz braucht im Orchester-Bereich nicht zu jammern, neidisch auf Leipzig oder Dresden zu schauen. Im Gegenteil.
Die Philharmonie ist in die Stadt gegangen – hat neue Freunde gewonnen. Manche, die noch nie in einem Sinfonie-Konzert waren. Gerade auch Studenten und junge Menschen. In der Uni, im Straßenbahndepot. Nicht immer Stadthalle oder Opernhaus – wie wunderbar war auch das Konzert in der Kreuzkirche. Die meisten Konzerte waren ausverkauft – manche weit darüber hinaus. Doch nicht überall gab es Stehplätze. Schade.
Hamm freut sich jetzt auf den Chemnitzer Beethoven-Zyklus. Unschätzbare Werbung für die Stadt. Unsere. Wir in Chemnitz hoffen, dass solch philharmonische Sommer keine Eintagsfliege bleiben. Dass wir vielleicht nochmal Begegnungen mit Beethoven erleben dürfen, z.B. mit den fünf Klavierkonzerten und dem Violinkonzert. Oder auch Begegnungen mit den Sinfonien und Konzerten vom Namenspatron Robert Schumann. Oder von Brahms. Oder von Tschaikowsky. Oder von Mendelssohn. Gar nicht zu hoffen auf Bruckner oder Mahler.
Gut, dass es die Robert-Schumann-Philharmonie gibt. Wir brauchen sie. EKKo und Sparkonzepte hin oder her.