Beethoven-Zyklus: Auftakt mit der neuen Neunten

Rund zehn Minuten weniger als Furtwängler am 29. Juli 1951 in Bayreuth. MP3-Fans lächeln müde darüber: 1978 war es eine Sensation, als man Beethovens Neunte erstmals an einem Stück aus den Lautsprechern hören konnte. Auf einer dieser neuen CD, wofür vorher zwei LP gebraucht worden waren. Karajan riet damals seinem Freund Norio Ohga, dem Sony-Vizepräsidenten, die Standard-Länge einer CD so festzulegen, dass die Neunte drauf passt. Und Furtwänglers Aufnahme dauerte am längsten: exakt 74 Minuten. Mit Beermann als Referenz hätte heute jede CD zehn Minuten weniger Spielzeit…

Beermann hatte zwar vorher gezwinkert: die zweite Halbzeit des Holland-Spiels könne sich jeder Fußballfan noch zuhause oder wo auch immer reinziehen. Aber nicht deshalb hat er so auf’s Tempo gedrückt. Sondern weil Beethoven es so wollte. Und weil es so in den neuen Noten steht, aus denen die Philharmoniker spielten. Und gern spielen. Allein, weil kluge Menschen den Seitenwechsel so eingeplant haben, dass er nicht wie früher oft, mitten in einer teuflisch schwierigen Passage verlangt wird. (Die Noten hat übrigens der Theaterförderverein bezahlt, aus einer großzügigen Zuweisung der Schellhorn-Stiftung).

Der Musikwissenschaftler Jonathan Del Mar hat die kritische Neuausgabe gemacht, die heute eigentlich nicht mehr neu ist (sie erschien bereits im Dezember 1996). Allein für die Neunte hat Del Mar rund zwanzig Quellen Note für Note verglichen, geschaut, was Beethoven wirklich gekitzelt, wo Notenstecher daneben gestochen und Bearbeiter auf Zeitgeschmack ausgerutscht sind. Und er hat die Metronom-Angaben dazu drucken lassen. (Sie geben an, wie viel Noten oder Takte pro Minute zu spielen sind.) So wie Beethoven sie, begeistert von dem unbestechlich gleichmäßige tickenden Metronom des Herrn Mänzel, eigenhändig notiert hat. Damit nicht jeder „nach seinem Genius” das Tempo bestimme, sondern so, wie der Komponist es gewollt hat. Seine Neunte sei in Berlin „mit enthusiastischem Beifall vor sich gegangen…, welches ich großenteils der Metronomisierung zuschreibe”, vermerkt Beethoven in einem Brief vom 18. Dezember 1826.

Furtwängler scherte sich darum einen Dreck. Auch andere Dirigenten spürten in ihrem Genius den eigenen Götterfunken. Pultgötter… „Unmöglich schnell, das ist nicht Beethoven”, hat angeblich auch einmal ein angesehener Chemnitzer Philharmoniker gemeckert, als John Carewe das Tempo so nehmen wollte, wie es in den Noten steht. Carewe gab nach, Beermann nicht.

Ob es eine Rolle spielt, ob ein Stück schneller gespielt wird? Und wie! Plötzlich erklingt die vorher so oft heroische mysteriöse Neunte heller, schärfer – das „Elysium” ist zwar das vom Meer umgebene altgriechische Paradies für gestandene Helden im Ruhestand (das manche auf die Kanaren verlegen), aber hier geht’s um die „Tochter aus Elysium”, die jubelnde Freude, nicht die Heldenkeule. Die Geiger machen kürzere Striche, weil sie für längere und viel gefühlseliges Vibrato gar keine Zeit haben, die Trompeten erschallen nicht wir für’s Jüngste Gericht, sondern glänzen hell und kurz, der Pauker donnert im ersten Satz nicht gewitterlang rein wie bei Furtwängler, wo man froh ist, wenn er aufhört und einem die Trommelfelle nicht geplatzt sind, stattdessen treibt er hier kurz und hart das Thema voran. Es gibt keine willkürlichen Riterdandi, weil der Dirigent dem Publikum nicht klarmachen muss: Hej Leute, jetzt kommt gleich was Besonderes. Keinen extrem langsamen dritten Satz als retardierendes Element wie im Drama, ehe der Höhepunkt kommt, hier der vierte Satz mit der „Ode an die Freude”. Keiner muss rumlabern wie Thielemann, als er einen „Brucknerschen Nebel” über dem ersten Satz wabern sah (passt zu Dresden, nicht zur Stadt der Moderne), und zurücknehmen und antreiben und lauter werden, wo es nicht nötig ist. Steht doch alles in den Noten, macht doch die Musik selbst – wenn man sie spielt, wie Beethoven es gewollt hat.

Beermann hat’s getan. Das geht natürlich nicht ohne Probleme ab. Gleichmäßige kurze schnelle Staccati sind schon für den einzelnen Musiker schwer, in der Gruppe noch schwieriger, bei 60 Streichern noch ein paar Grad mehr, und wenn dann noch die Holzbläser dazukommen – da wackelt’s dann schon mal im Zusammenspiel. Und – teuflisch – technisch hat man es ja drauf, auch dieses Wahnsinnstempo, aber tausendmal langsamer gespielt, bis da Hirn und Herz und Fingerspitzen alle alten Tempogewohnheiten auf einmal wegwerfen, das kostet verdammt viel Anstrengung, nicht nur physische.

Aber wie spannend ist es, wenn Celli und Bässe im vierten Satz das quellende Thema der Freude, des schönen Götterfunkens, so pianissimo und rasch fließen lassen, dass Beermann seine Linke unten lassen kann und eigentlich gar nicht dirigieren muss, weil alles so natürlich klingt. Wie „freudig” ist es, wenn der Chor die Freude nicht als Marsch anstimmen, jede Silbe betonen muss, als wär’s die letzte, die er den Kehlen entringt, sondern freudig locker die (verdammt hohen) Freuden-Höhen erklimmen kann. Wenn der Bass nicht hochdramatisch „O Frooooheueueunde” plärrt, dass ich gar nicht mehr sein Freund sein will, sondern locker sagen/singen kann, worum es jetzt geht (was Beethoven ja bewusst an diese Stelle gesetzt hat: unvermittelt Schiller reinknallen, wo noch niemand vorher bei einer Sinfonie einen Schlusschor gehört hatte, wäre doch des Überraschenden zu viel gewesen), wenn die Sopranistin die zwei hohen „h” des holden Flügels nicht wie eine Feuerwehrsirene von unten ansetzen und hochziehen muss (wie es so oft zu hören ist), sondern leicht und locker schweben darf und oben nicht versauern muss – das macht Freude.

Klar, das kann nicht jede. Julia Bauer kann’s. Tina Penttinen (nebenbei: clevere Kostümwahl, der rote Farbtupfer), Bernhard Berchtold, Oliver Zwarg – ein beachtlich gutes und stimmlich zusammenpassendes Solistenquartett (alle stehen und standen sie auf der Chemnitzer Bühne), die Chöre – die sich wieder einmal selbst übertreffende Kantorei der Kreuzkirche, einstudiert von Steffen Walther, der sich (Gott sei Dank) dafür nicht zu schade ist, und der Philharmonische Jugendchor Dresden – es passte alles. Die Robert-Schumann-Philharmonie, die sich der Herausforderung der „neuen” Neunten mit Bravour stellt, und Frank Beermann, der sich zu Recht durchgesetzt hat. Die Neunte, schnell wie nie, aber auch so interessant wie selten in Chemnitz.

Der Götterfunke sprang über. Riesenbeifall für alle.

Und dann daheim die zweite Halbzeit. Das Gegentor. Kein Götterfunken mehr, wie vorher in den 64 oder 45 Minuten. Es lohnt sich, heute Abend in die Stadthalle zu gehen.