Beeindruckend

Keine Kritik. Ein paar Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Abend:

Die Deutschen hatten Europa mit Krieg überzogen, Städte bombardiert, auch englische. Am 5. März kam er mit aller Brutalität über Chemnitz zurück.  Auch englische Bomben ruinierten die Stadt. „Müssen wir jetzt alle sterben“, fragt heute singend in der Stadthalle der Knabenchor aus Gloucester und Worcester wie damals das Kind seine Mutter im Luftschutzkeller, in Chemnitz. Gänsehaut. Hoffnung, dass so was nie wieder passiert.

Torsten Rasch ist ein überaus geschickter Dramatiker, auch was die Texte – englische, deutsche, lateinische – angeht. Sein „Oratorium“ ist nicht im Wortsinn „christlich“. Aber durchaus in der Nähe der „Missae pro defunctis“, der Requien, der Totenmessen, in der katholischen Kirche. Die macht seit mehr als 2000 Jahren Liturgie, versteht was von Dramatik. Von (und vom Wecken von) Emotion. Die großen Requiem-Komponisten haben das genutzt: Verdi, Berlioz und vor allem Mozart, dessen “dies irae“ (Tag der Zornes) das Jüngste Gericht wie eine Bombennacht erdonnern lässt. Rasch bleibt irdischer. Aber persönliches Leid und Trauer der Schuldlosen um den gefallenen Mann ist im englischen Text so spürbar wie die Angst im Lateinischen, vor dem höchsten Richter zu den Schuldigen zu gehören.

Geschrieben ist Raschs Monumentalwerk als Auftragsarbeit des englischen Three Choirs Festival und der Theater Chemnitz. Bei der Uraufführung am 31. Juli 2014 in Worcester erinnerte es an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 100 Jahre zuvor. Jetzt, zur Erstaufführung in Deutschland, steht das Gedenken an das Leid durch den Zweiten Weltkrieg im Vordergrund. In England haben Chemnitzer Sänger von der Kantorei der Kreuzkirche mitgesungen. Jetzt reihten sich in den Riesenchor Mitglieder des englischen Drei-Chöre-Festivals und 16 Sängerknaben aus den Kathedralen von Gloucester und Worcester in ihren roten Gewändern. Versöhnung, aber auch Nichtvergessen, von Generationen, die die schrecklichen Ereignisse vor 70 Jahren nur von den Eltern kannten. Wie Frank Beermann.

Ohne Frank Beermann hätte es diese übergreifende und ergreifende Zusammenarbeit nicht gegeben. Er war der Motor auf deutscher Seite. Unwissend, wie er gesteht, wie aktuell das Werk heute angesichts von Rechtsparolen und Pegida sein würde und geworden ist. Beermann wird die Übertragung im Grippebett auf Deutschlandradio Kultur mitzitternd mitverfolgt haben. Christoph Dittrich hatte einführend Recht, an ihn zu denken.

Für Beermann dirigierte Milko Kersten. Kurzfristig eingesprungen – eine Wahnsinnsaufgabe angesichts dieser fast überbordenden Partitur. „Bewundernswert“, kommentierte der Komponist am Donnerstag die Leistung des Dresdners (Rasch hatte schon die Aufführung am Mittwoch gehört. Und – zu Recht auch ein bisschen stolz – Standing Ovations erlebt. „Nicht gerade üblich in einem Sinfoniekonzert“).

Kersten hat bei Dieter-Gerhardt Worm studiert, dem langjährigen GMD der Robert-Schumann-Philharmonie. Ein anderer ehemaliger Chemnitzer GMD, John Carewe, hat den Raschs Rammstein-Text-Liederzyklus „Mein Herz brennt“ so gekonnt gestaltet, dass die CD 2004 den ECHO-Klassik-Preis bekam. Chemnitz hat, dirigiert von Beermann, Raschs Oper „Herzogin von Malfi“ erstmals komplett aufgeführt und die darauf beruhende Suite „Das Haus der Temperamente“. Und weitere Werke.

Rasch und Chemnitz passen zueinander, nicht nur weil der Großonkel des Dresdners Rasch aus Chemnitz stammt. Und zeitgenössische Musik passt zur Stadt der Moderne. Und wird angenommen. Am 21. März spielt die Oper die deutsche Erstaufführung von Peter Eötvös‘ „Paradise reloaded“, nachdem schon dessen „Love and other Demons“ in Chemnitz ein sensationeller Erfolg gewesen war.

Zeitgenössische Musik schreckt manchmal ab, bei Rasch nicht. Er komponiert fast durchweg tonal. Dissonanzen geben Struktur, so verrückt das klingt.  Sobald sich eine Melodie zu entfalten scheint, brechen Dissonanzen und Störrhythmen traditionelle Hörgewohnheiten. Keine Chance für spätromantische Verführungen. Trotzdem ist auch Wagner mitunter nicht fern. Und Bild-betönende Filmmusik (Rasch hat in Japan einige Filmmusiken komponiert). Bombenhagel, Chaos und Konfusion macht Rasch in diesem Werk hör- und erlebbar. Die Ohren sehen die Bomber, die Luftschutzkeller und die Hast durch Ruinen.

Ein solches Werk erfordert höchstes Können, außergewöhnliche Präzision im Orchester, auch wenn es in ungewohnter Aufstellung spielen muss. Große Trommel ganz links, Pauken ganz rechts. Auch die klingenden Hölzer. Das muss stimmen auf den Punkt. Girrende Streicherglissandi, mauerzertrümmernde Trompeten, klagendes Englischhorn,  irritierende Nahkämpfe zwischen Piccolo und Flöte, angstschaffende Drohklänge durch gesägte Vibraphone, gerührte Chinesen-Gongs, harte Glockenschläge – klare Kindersoprane im Kontrast zu vibrierenden Frauenstimmen, A-capella-Chor-Massen gegenüber Solo-Bariton und –Sopran. Ein gigantisches Werk. Zerrissen, geeint, auseinander geschlagen, wieder gefunden. Große Komposition, große Leistung der mehr als 250 Mitwirkenden. Und nochmal Kompliment an den Einspringer Milko Kersten, der Klangmassen zähmte, Grotesken verschärfte (Kinderchor, Präpositionen) und zarte Hoffnungen schürte (Sopran, Ende Teil 2).

Bei der Uraufführung in England hatte der Hall in der Kathedrale manchen Eindruck zerstört, mäkelten Kritiker auf der britischen Insel. Nicht so in der Stadthalle in Chemnitz. Jetzt erst waren die Feinheiten, aber auch die komplexen Verspannungen der musikalischen Linien ganz deutlich zu hören. Da hatte die deutsche Erstaufführung der Uraufführung viel voraus.

OB Barbara Ludwig erlebte das Konzert eingerahmt von Christoph Dittrich und Torsten Rasch mit. Dankbar, nicht nur, dass das Geld zusammengekommen war für dieses riesige Vorhaben. Sondern auch für das Engagement aller Beteiligten. Wann je stand ein solcher Mammutchor auf der Stadthallenbühne (Chor und Extrachor der Oper, Dresdner Kammerchor, Kantorei der Kreuzkirche und Mitglieder der Schlosskirchenkantorei, des Uni-Chores und der Singakademie und die englischen Sängerknaben)? Wann haben die Leiter sich so selbstlos unterordnend gemeinsam ums Einstudieren gekümmert (Simon Zimmermann, Olaf Kratzer, Steffen Walther, Andreas Pabst, Peter Nardone)? Welch prächtige internationale Solisten haben sich mit Claudia Baransky und Nikolay Borchev diesem gemeinsamen Anliegen untergeordnet?

Der Erfolg ist auch sein Verdienst: Günter Schneider von der Schellhorn-Stiftung mit Johannes Schulze, dem Vorsitzenden des Theaterfördervereins

Einer hat uns mit seinem Engagement besonders imponiert: Günter Schneider, der Vorsitzende der Schellhorn-Stiftung. Er hat schon oft geholfen, manchmal auch via Förderverein. An diesem Abend hat er nicht auf die wirkmächtigen, großen, glänzenden Becken gehört, die die Stiftung bezahlt hat, auch nicht an die finanzielle Hilfe für diesen Abend gedacht, er hatte nur Augen für seine kleinen Schützlinge, die Sängerknaben. In der Nacht von Sonntag auf Montag um Mitternacht kamen die Sänger mit ihren Eltern an. Seither hat er sich rund um die Uhr um sie gekümmert, und ihnen gezeigt, dass Sachsen nicht Pegidaland ist*. Und dass Chemnitz nicht ein „foreign field“ für die englischen Freunde ist, sondern Freundesland, und dass, wie Beermann es treffend formuliert hat, die Aufführung von Torsten Raschs Oratorium an Chemnitzer Friedenstag vor allem eins ist: „ein Plädoyer für Frieden, Respekt, Toleranz und Brüderlichkeit“.

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Zu Beginn hatte die Robert-Schumann-Philharmonie Benjamin Brittens „Sinfonia da Requiem“ gespielt. Selten zu hören. Und – kein Missbrauch! – eine überaus gelungene Einstimmung in eine andere Welt als die der Arbeit, von der viele Zuhörer auch an diesem Abend kamen.

Das 7. Sinfoniekonzert: Bewegender Abschluss eines großen Friedenstages. Chemnitz hat ein Zeichen gesetzt.

*Hier ein Video vom Besuch der Sängerknaben in der Frauenkirche