Aus der Traum

Ein einziges Mal zeigt der Kapitalismus seine Fratze: Da schmeißt Howard Wagner (Wandlungswunder Dominik Puhl, mit Sonderbeifall für seine spätere Rolle als Kellner Stanley) den verdienten, aber unzeitgemäß gewordenen Vertreter und Kompagnon seines Alten Knall auf Fall raus. Tempora mutantur, die Zeiten ändern sich, und weh, wir nicht auch. Loman steht buchstäblich im Regen, der von draußen (per Video – sonst verzichtet Knödler auf Videos. Danke für diesen Beweis, dass Drama heute auch ohne geht!) ans Fenster klatscht. Nur eine Kleinigkeit, die sich erst da erschließt: Zu Beginn des Stücks kommen Willy Loman (Dirk Glodde) und seine Frau Linda (Katka Kurze) aus dem Sauwetter draußen klatschnass in ihre kleinbürgerliche Glückseligkeit des gar nicht trauten Heims – und während Linda die anmaßenden Protzschuhe (ein Vertreter hat ausgelatschte zu tragen) zum Trocknen entsorgt, hängt Loman seinem american dream nach, der längst ausgeträumt ist. Der Mann steht von Anfang an im Regen. Loser können nicht glücklich sein. In der amerikanischen Gesellschaft der Enddreißiger Jahre (was für eine Ironie: Miller erhielt für sein 1939 uraufgeführtes Stück den gesellschaftlich höchst angesehenen Pulitzer-Preis) bestimmt die Gesellschaft, wer des Glückes Schmied ist. Und das ist allemal der, er heute ein paar Dollars mehr schmiedet als gestern und morgen noch ein paar mehr macht, und sei es, dass er, möglicherweise schwarzer Underdog, seinen Umsatz als Kloputzer verdoppelt.

Nichts mit „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Der römische Konsul Appius Claudius Caecus, dem die Erfindung des Sprichworts von Sallust (zur Zeitenwende) in den Mund gelegt wurde, hat immerhin um die 300 vor Christus die Rechte der Unterschicht, der römischen Proletarier, ausgebaut, Sklaven (unerhört!) sogar wählen lassen. Wenn sie ihr Glück richtig schmiedeten, konnten sie sogar Senatoren werden.

Nichts mehr davon bei Miller und Knödler. Biff Loman, der Sohn, dem es einmal besser gehen soll, ist unfähig, dem Traum nach Glück nachzujagen, soviel Jobs in wieviel Staaten er auch versucht. Er hat seine „unveräußerlichen Rechte“ auf „Freiheit und Streben nach Glückseligkeit“ (wie sie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu Verfassungsrang gelangten) längst aufgegeben. Martin Esser spielt diesen Loser, der es noch nicht einmal seinem Vater (von wegen der Gesellschaft) recht machen kann, weil der ihn enttäuscht hat, vom auf Vater-Pfiff gedrillten Jugendlichen bis hin zum denkenden Erwachsenen („ich bin dann mal lange weit weg“ aus dieser verlogenen Gesellschaft) mit großer Steigerungskraft. Die Abrechnung mit dem Vater, die auch seine erste Liebeserklärung ist, macht Esser bis zum weinenden Zusammenbruch zum großen Theater. Er hat’s für sich gepackt: Jetzt und hier bin ich Mensch… Aus der Traum. Aber ganz anders.

Sein Bruder Happy, der Hilfs-Assi vom Assi des Hilfs-Assistenten, schert sich einen Dreck um Träume. Er lebt, wie es ihm in den Strumpf passt. Konstantin Weber ist dieser quirlige Gegensatz, der sein Hirn, wenn‘s geht, gegenüber den Damen oder Dämchen, auf der Zunge und in der Hose trägt. Aus der Traum, auch für ihn. Er wird nie zur Gesellschaft gehören, sitzt bedröppelt an der Rampe, versteht nichts, aber auch gar nichts von dem, was Vater und Bruder umtreibt. A propos Rampe: das ebenso praktische wie sprechende Bühnenbild von Stefan Morgenstern trägt einiges zum Erfolg dieser Aufführung bei. Lässt die Bedrohung des kleinen 25-Jahre-abzutzahlenden Glücks durch Trumpsche Hochhäuser ahnen, lässt ganz normales Schlafengehen zur Herausforderung werden, hängt das unbequeme Sofa, das Loman den Schlaf raubt, überzwerch an die Wand und das Telefon, das Mutter Linda mit Mühe und Stöckeln in Überhöhe knapp erreichen kann, so hoch, dass es eigentlich nur schlechte Botschaften verkünden kann. Die Realität ist verquerer als jeder Traum.

In Dirk Glodde hat Carsten Knödler seinen idealen Loser Loman gefunden. Regisseur und Schauspieler müssen schon sehr aufeinander gepolt sein, dass eine solche Geschichte ohne lächerlich zu wirken, rüberkommt. Die Gefahr ist groß, dass der Zuschauer diesem Willy Loman einen Tritt geben will, dass der endlich in die Puschen des normalen Lebens kommt. Und dass er dadurch nur theatralisch affektiert und im schlimmsten Fall lächerlich wirkt. Glodde kann sich übergangslos in seine Träume gleiten lassen oder steigern – Knödler öffnet die Szene, bisschen Filmmusik unterlegt aber ohne viel Licht-Schnickschnack oder Traumvideos, Glodde-Loman kämpft sich den Frust von der Seele im längst verlorenen Duell mit dem Jungspundchef Wagner und kann sich furchtbar darüber aufregen, dass seine Frau Linda die Laufmaschen der Nylons aufzufangen versucht – spürbar das schlechte Gewissen,  weil er ihr keine neuen besorgen kann. Die hat er der Nylon-unersättlichen Frau aus Boston (Andrea Zwicky) geschenkt – haufenwiese. Vorn die maschenfangende Hausfrau, hinten das beinprotzende Nylonluder – Knödler schafft Bilder, die mehr sagen als tausend Worte.

Und seine Schwester, die für die Kostüme zuständig ist, setzt die passenden Tupfer: So einen bedrohlich spitzverführerischen BH wie sie ihn Andrea Zwicky verpasst hat, muss wohl auch Marilyn Monroe getragen haben, der Traum vieler Männer auf der ganzen Welt, den sich Arthur Miller 1956 verwirklichen konnte. Fünf Jahre später scheiterte die Ehe. Aus der Traum auch hier.

Mit besonderer Liebe und Sorgfalt behandelt Knödler den ach so vernünftigen und „normal“ dankenden Charley (Wolfgang Adam), den Ein-bisschen-Elvis-Verschnitt-Bruder Ben (Philipp Otto), der nur einmal aus dem Kühlschrank kommen muss, dann wissen wir, dass sich hier Traum-Szenerien abspielen, vor allem aber Katka Kurze, die Linda Loman. Sie weiß alles, spielt aber das rührende Hausfrauchen, als ob sie von nichts ne Ahnung hätte (auch die Frau des Kapitalisten Wagner folgt dem tradierten Gesellschafts-Schema: die Hausfrau und Mutter weiß nicht, was sie ins Mikrofon des Tonbands, des neuen Wunder-Tools ihres in einer ganz anderen Welt erfolgreichen Gatten, sprechen soll. – Wieder eine dieser „Kleinigkeiten“, die diese Inszenierung groß machen). Aber auch dieser liebenden, immer nach dem Glück der anderen suchenden Frau, platzt schließlich der Kragen: Stark, wie Katka Kurze – endlich, möchte man rufen – aus ihrer Rolle heraustritt („Ich bin nicht Euer Dienstmädchen“).

Knödler und seine Dramaturgin Kathrin Brune brauchen nicht Lindas Requiem-Resümee am Schluss, wie es eigentlich bei Arthur Miller steht. Und Willy Loman muss auch nicht bühnenwirksam mit seinem alten Chevy bühnenwirksam per Video gegen einen Brückenpfeiler knallen, um zu beweisen, dass er im Tod mehr wert ist, als im Leben. Durch die Versicherungssumme zumindest für die Angehörigen. Er steht am Schluss wie am Anfang allein auf der Bühne. Aus der Traum.

Er hat keinen Gott, der ihm helfen könnte wie Tevje (aus „Anatevka“), der doch nichts anderes will, als Loman: „Wen ich einmal reich wär‘“. Und der ganz ohne american dream, aber mit Gottvertrauen, durchs Leben geht. Arthur Miller war bekennender Atheist.

Großer Abend. Viel (warmer und dankbarer) Beifall für das Leitungsteam und die Akteure auf und hinter der Bühne im voll besetzten Schauspielhaus.

Die nächsten Vorstellungen: 12., 19., 25., 31. Mai 2018