Auf Dorincourt feiern sie schon. Jetzt kann Weihnachten kommen

Spurensuche. Wie schaffen es die Chemnitzer, jedes Weihnachtsmärchen zu einem (womöglich) noch heißeren Hit zu machen? Nehmen wir „Der kleine Lord“. Premiere vorhin, 18 Uhr.

1. Sie nehmen das Publikum ernst. Wollen Alt und Jung was bieten. Und bieten beste Schauspieler auf. Machen nicht eine Pflichtaufgabe aus der Produktion, sondern bieten Schauspiel-Kunst. Susanne Stein, die in Chemnitz schon Richard III. verkörperte, ist sich nicht zu schade, Dawson, die Hauswirtschafterin des Earls zu spielen. Und wie sie das tut! Sie äfft den Misanthropen nach, dass niemand das Zucken in den Mundwinkeln verhindern kann. Und sie spielt mit dem jungen Lord Indianer, dass Nscho-tschi, die Winetou-Schwester, von ihr lernen könnte. Oder Wolfgang Adam. Natürlich muss er ein bisschen Alec Guinness sein. Auch Kinder wollen einen Wiederkennungswert. Aber wie er sich wandelt, und wie er dann dasteht, und mannhaft, aber bis ins tiefste Herz gerührt, den „Verlust“ seines neuen „Kumpels“ und Nachfolgers beklagt, das ist einfach großartig.

2. Es gehört Mut dazu, einen Kultfilm auf die Bühne zu bringen. Vielmehr noch als ein Buch. Eine Kamera kann wunderbare Ritte und Kutschenfahrten durch herrliche Landschaften einfangen. Geht hier nicht. Sparsame, aber wirksame Mittel sind angesagt. Einfach eine große Halle zu machen, wow, ist das groß, Schloss. Und die Kinder kriegen große Augen. Die schlichte, wenn auch einfache Größe heißt Schloss in Kinderaugen, ist nicht das kleine Kinderzimmer daheim. Wie dreckig es den Leuten gehen kann, zeigt ein eigen konstruiertes Drehbühnenbild. Hätte man mit Worten nie so gut illustrieren können. Kompliment an Stefan Morgenstern, der nicht nur die gichtige Einsamkeit vor dem arschverbrennenden Kamin des Earls herrlich illustrierte, sondern auch amüsante Kostüme kreierte wie das rote Gestrüpp der falschen Schleichkatze Tipton. Darauf kommen wir noch.

3. Atmosphäre schaffen. Wenn Dick, der größte und beste Schuhputzer aller Zeiten, mit seinem Steißsitzwärmer im Schloss einfällt, fragen sich nur Erwachsene, wie er mit diesem Unding in den Zeppelin gekommen ist. Aber er ist sofort er, wo immer er auftaucht. Oder der Fast-Zuse-PC. An dem nicht der Anwalt und Diener, sondern der Chef persönlich sitzt. Was ist heute ein Märchen, in dem Rechner nicht mehr vorkommen? Natürlich ist die Mutter viel zu „reich“ gekleidet. Aber wer so lieb und altruistisch ist wie Mutter Errol, kommt nicht in „bösen“ Klamotten daher.

4. Wenn wir schon dabei sind: Die Schauspieler identifizieren sich mit ihren Rollen. Spielen nicht einen Part runter. Maria Schubert ist eine junge Mutter. Und sie ist eine Dame. Und sie ist diese Huren-Schwindlerin. Lieb, hübsch , böse, kreischend – Maria Schubert wieder mal eine Augenweide. Mr. Hobbs, der global missdenkende und später bekehrte Bronx-Händler, nie eine linke Anti-Kapitalismus-Ratte, immer das Vorbild des Freundes – Dirk Glodde bringt das toll rüber. Dominik Puhl darf nur der zweitbeste Freund sein. Aber er rettet schließlich die Chose. Der Schuhputzer als Champion. Kluges Gossenkind. Herrlich!

5. Ohne Humor geht gar nichts. Christian Ruth als Mr. Havisham ist mindestens so hoppla, wie Freddy Frinton in Dinner for one, auch wenn er über alles andere stolpert, nur nicht über einen Tigerkopf. Die running-gag-Ritterrüstung als – griechischer – Chor, totenkopfkommentierend ist ebenso gagig wie die Visagen aus den aufwendig gemalten Ahnenporträts (Kompliment an den Malsaaal!). Katka Kurze (die lebenslustige Antagonistin des Griesgrams) ist die animierend fröhliche Aufheberin des retardierenden Moments (puh, klingt das geschwollen. Auf deutsch: Sie passt genau in diese Phase des Stücks). Jannick Rodenwaldt, Student im Studio, durfte zur Premiere den Unterglück-Überglück-Pächter des Earls spielen. Spielen… Gut gemacht. Und das Pony, in der Klabautermann-Lounge, das weder schwarz noch ein Deichselschwein war, köstlich!

6. Du musst glauben, was Du siehst. Automatisch. Konstantin Weber, neu in Chemnitz seit dieser Saison, ist kein Teeny mehr. Aber ratzfatz nehmen wir ihm den „kleinen“ Lord ab. In der Sprache, im Tollen mit Ball und über die Bühne, in der liebevollen Geste zu Mutter, Freunden und Opa. Sitzt da, und verkündet die wichtigste Christenbotschaft aller Zeiten: Geben ist seliger denn nehmen. Er ist der „kleine“, obwohl er der Große ist (besser: der Lange). Hinkriegen. Werdet erstmal wie die Kinder. Ganz große Klasse!

7. Du darfst nichts überfrachten. Silke Johanna Fischer lässt’s schon mal wuseln (Straße vor Hobb’s Laden – der am Rande immer die falsche coldes/open-Tafel nach innen zeigt). Aber sonst sie beschränkt sich auf Zeichen. Da genügt ein Ball, ein lockeres Springen die Treppe hoch, ein überhebliches Glas (Havisham vor dem Earl-Kamin), die antischwärende Fußbinde (in der Armetei), der hereinschwebende Weihnachtsbaum. Nichts überzogen, alles passend.

Alles richtig gemacht. Gestandene Premiereabonnisten sind auch Väter, Mütter, Opas und Omas, Oder Tanten und Onkel. Es war einmal … dass sich Kinnhochträger über die Weihnachtsmärchen im Abo beschwert haben. Im Chemnitzer Schauspiel werden die immer besser, wenn’s überhaupt geht. Und wenn sie nicht gestorben sind, wird’s so weiter gehen. Gaudete, heißt’s im Advent. Freut Euch!

Die nächsten Termine: 26. November, und mehr als 20-mal im Dezember