Auch bei Goethes und Schillers war die Welt aus den Fugen. Aber die Weimarer Theatergrößen wären nie auf die Idee gekommen, den Besetzungszettel von „Götz“ oder den „Räubern“ nicht hierarchisch top down aufzubauen, wie es schon Shakespeare, der große Kollege von der Insel (nicht nur in seinen Königsdramen) gemacht hatte. Selbst noch in der Besetzungsliste des großartigen Films von Tom Hooper (2010) steht der König vor dem Therapeuten. Im Chemnitzer Programmheft aber führt der verkrachte Schauspieler Lionel die Liste an – nur nach dem Schluss darf der König als letzter den krönenden Beifall abholen. Aber da sind nicht mehr in der Geschichte, da sind wir ja wieder im Theater…
Durch Hitler und den zweiten Weltkrieg haben sich nicht nur die politischen Machtverhältnisse verschoben. Die „Amis“ bedeuteten vorher für die „Rule Britannia“-Hochnasengländer nicht viel mehr als die Outbacks aus Australien. Wenn Myrtle, die australische Lionel-Gattin, fast in Ohnmacht fällt, als sie hört, dass sie in die Königsloge darf (wunderbar Philipp Otto und Ulrike Euen), dann gilt das genauso für Wallis Simpson. Allenfalls dienender Notsitz, aber doch nicht vorn als Strahlekönigin. Aber ausgerechnet diese halbseidene Bürgerin der neuen (das heißt ohne Traditionen) Welt hat sich David (Bertis älterer Bruder und Erster in der Thronfolge) zur Geliebten erkoren. Das geht ja nun gar nicht. Charleston tanzt diese Dame (herrlich die Einlagen mit Stefan Migge und Sindy Hohmann) – da rümpft nicht nur der strenge Bertie die Nase, sondern auch Cosmo Lang, der Erzbischof (abgefeimt Stefan Schweninger), dem sonst nichts Irdisches fremd ist, und der sich auch um die Fortpflanzung seiner Schäfchen kümmert.
Dass sie es auch mit Rippentrop, dem Nazi-Botschafter, getrieben haben soll (gar 17 mal!), das wird da schon fast eher akzeptiert. (Wir sind ja zivilisierte Europäer!). Wie überhaupt Herbert Olschok und sein Dramaturg René Schmidt die im Film ständig grollende Furcht vor den Hitler-Deutschen eher zurückhaltend schildern, Adolf sogar den Hals (sprich seine Radio-Attacke) einfach abdrehen. Gar nicht auszudenken, wenn David, der ältere Bruder und Hitler-Freund, König geblieben wäre, England und Deutschland sich zusammengetan hätten – o Gott, wo stünden wir heute… Aber Olschok verfällt nicht dem Wenn-man-aus-dem-Rathaus-kommt-Syndrom – kurzer Filmschnipsel, abgehakt. Die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, auch dank Bertie, King George VI.
Der wurde das, weil er im richtigen Moment die richtigen Worte fand (und selbst Churchill überzeugte – durchtrieben kalkuliertes Understatement pur: Ulrich Lenk – der vorher ihm nicht mal zugestanden hätte, ohne Chaos Fish and Chips zu bestellen). Ohne Lionel, den Stotter-Doktor, hätte Bertie das nie geschafft. Treppenwitz der Weltgeschichte: durch einen verkrachten Schauspieler gewann England den Krieg. Neee, so einfach ist das nicht, und so banal kommen auch David Seidler, der Autor, und Herbert Olschok nicht daher.
Das vermittelt die Chemnitzer Produktion: wie absolutistische Operetten-Herrscher Mensch werden, zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Bürger „sprechen“ können (und fluchen und singen), wie sie von ihrem hohen Thron heruntersteigen und Repräsentanten der Bürger werden, nicht mehr Herrscher über sie sind. Heute haben wir in Europa überall, wo es noch Könige gibt, repräsentative Demokratien. Das ist ein schmerzhafter Prozess gewesen: David, Berties Bruder durfte seine Wallis noch nicht ungestraft heiraten – Charles haben die Engländer heute sogar Camilla Parker Bowles verziehen. Könige (auch künftige) sind auch Menschen wie du und ich geworden. Wenn es auch nur ein bisschen was Gutes an dem schrecklichen Geschehen Mitte des letzten Jahrhunderts gibt, dann, dass sich die Demokratie durchgesetzt hat.
Olschok ist ein penibler Arbeiter. Wir erinnern uns an das legendäre „Ballhaus“, das er damals (1994) von Weimar nach Chemnitz mitbrachte, als er hier Schauspieldirektor wurde. In dem sprachlosen Stück sprach genauso jede Geste wie jetzt, da es um des Königs „Speech“ ging. Und es sind nicht nur die Gesten. Es ist auch diese präzise charakterisierende Lust am Detail: man musste sie nicht hören, man sah es ihr und ihren Kleidern an, wie sich Elizabeth, Berties Frau (Maria Schubert – ein weiteres Mal bestechend nach ihrer „Lerche“), von der verwöhnten Adels-Zicke zur verantwortungsvollen Königin entwickelte. Und auch Myrtle (Ulrike Euen) wurde vom Outback-Mädchen zur bürgerlichen Königstreuen –mit aufrechtem Gang in Blumenbluse statt Daherlatschen in verwaschenem T-Shirt. Joachim Herzogs Kostüme fügen sich nahtlos in das Regie-Konzept ein. Auch das Bühnenbild (Esther Kemter/Ulrich Schreiber), leicht verwandelbar, spricht, sogar an den Hall in der Kathedrale hat man gedacht.
Ausnahmsweise das Beste zum Schluss: Philipp Otto und Marko Bullack sind schlichtweg das ideale Protagonisten-Paar. In einem Stück, wo es so ums Sprechen geht, sprechen sie absolut sauber, modellieren dabei Überraschungen, Sehnsüchte, Ärger, Angst. Das Stottern wird nicht übertrieben – die Sprechübungen kommen fließend. Die entscheidende Rede aus noch nicht perfekter Zungen- und Stimmbänder-Beherrschung, die Pantomimen- (Gesten-)Hilfe des Therapeuten immer gerade im Moment, wenn der Zuschauer helfen will: perfekte Übereinstimmung schon bei der Premiere.
Und neben allem: Zu Lachen gab’s auch einiges. Ein rundum gelungener Premierenabend. Vergesst den Film! Schaut Euch „The King’s Speech“ im Theater an! Die Produktion wird laufen. Ein weiteres Highlight in einer jetzt schon gelungenen Spielzeit.
Nächste Vorstellungen: 16., 24., 30. Mai