Alle wollen die Neuen sehen

Das Chemnitzer Schauspielstudio hat eine mehr als halbhundertjährige Geschichte. Später berühmte Schauspieler gingen aus ihm hervor, Ulrich Mühe etwa oder der heutige Generalintendant des Nationaltheaters in Weimar, Hasko Weber. Als vor ein paar Jahren die Leipziger Hochschule, von der damals die Studenten für ihr praktisches Jahr nach Chemnitz kamen, abrupt die Zusammenarbeit kündigte, sorgte der Theaterförderverein dafür, dass diese Institution erhalten blieb.

Mittlerweile haben Schauspielchef Carsten Knödler und Dramaturgin Kathrin Brune enge Beziehungen zu der Anton Bruckner Privat-Uni in Linz/Österreich und zur Zürcher Hochschule der Künste (Schweiz) aufgebaut. Aus Zürich kamen für ihr letztes Studienjahr nach Chemnitz Nina Vieten (geboren 1996, in München aufgewachsen) und Julian Laybourne (Hamburger, Jahrgang 1993). In Linz studierten die 1995 geborene Dorothea Jäger aus Cottbus und der Schweizer Vinzenz Wegmüller, der „Senior“ der Truppe (geboren 1990).

Und noch ein wesentlicher Teil der Erfolgsgeschichte: Seit fünf Jahren sorgen Studierende des Masterstudiengangs Bühnenbild „Szenischer Raum“ unter Frank Hänig an der TU Berlin für Bühnenbild (diesmal setzte sich der Österreicher Jan Klammer gegen seine Kommilitonen durch) und Kostüme (die Serbin Una Jankov löste bravourös die Aufgabe, dass die vier – von ursprünglich 13 – Akteure ratzfatz jeweils in andere Rolle schlüpfen konnten).

421 vor Christus hat der Grieche Aristophanes seine Komödie geschrieben – Peter Hacks hat sie 1962 in der Zeit des Kalten Kriegs zeitgemäß adaptiert. Die eine Dreiviertelstunde beklatschte Uraufführung unter Benno Besson am Deutschen Theater (Ost-)Berlin – später auch als Hörspiel veröffentlicht – sorgte jahrelang für Gesprächsstoff unter den Theaterinteressierten in der DDR und für hilfloses Gemurmel unter den Funktionären. Ein Mistkäfer spielt die Hauptrolle, weil er den Frieden bringt. Und den will eigentlich niemand. Die nicht, die auf Erden am Krieg verdienen, und die da droben, die (auch die Berliner) Götter erst recht nicht, weil: wer braucht sie dann noch?

Regisseur Branko Janack (der Berliner ist auch noch keine 30) nimmt sich die Freiheit, ganz unbelastet vom legendären Besson-Vorbild aus der Komödie eine skurrile, durchaus mit Klamauk gespickte Geschichte zu erzählen, die zeigt, wie laut (und dumm) Politiker über Frieden schwadronieren und gleichzeitig Krach und Krieg schüren.  Mit etwas spinnertem Willen kann man aus zweien der „antiken“ Köpfe auf der Bühne die blonen Politschreihälse aus London und Washington herauslesen…

Obwohl wir so tun als ob, zitiert das Programmheft Immanuel Kant, ist der Frieden kein Naturzustand, sondern zumindest „die immerwährende Bedrohung“ durch den Krieg. Der Frieden müsse immer und immer wieder gestiftet werden. Der Boden ist wackelig (die Schauspieler in Chemnitz balancieren die eineinhalb Stunden halsbrecherisch durch gefühlt tausende von schwarzen Plastikkugeln), zur Rettung des Friedens macht sich allein ein schlauer Bauer auf (alle vier Protagonisten schlüpfen in dessen Rolle), Krieg und Frieden verschmelzen in einer Person (Nina Vieten) und der geflügelte Götterbote Hermes zieht den Kürzeren gegenüber dem Mistkäfer (beide gespielt von Julian Laybourne), den jeder Pups von Göttervater Zeus magnetisch anzieht und der dadurch zum Friedensflügelengel wird.

Verrückte Satire – verrückt dargeboten. Die vier schreien sich die Seele aus dem Leib, unterliegen mit Gutmenschsentenzen-Clustern dem musikkrachenden Lauf der Welt, tönen pseudoharmonisch – da müssen sie selbst drüber lachen oder stöhnen – wie ein griechischer Dramenchor vieltausendjährige Harmonieverlogenheiten und sketchen sich zu zweit, zu dritt oder selbviert durch den Irrsinn einer Welt, die vor Absurditäten strotzt.

Wir sind gespannt, wie sich die vier jungen „Neuen“ bei großen Produktionen im Ensemble schlagen werden, wenn sie nicht wie hier die sprichwörtliche Sau rauslassen dürfen. Alle vier sind große Talente, das haben sie am Freitag schon bewiesen: das blonde Schnell-und-Lautsprech-Gift Dorothea Röger, der Käfer-Philosoph Vinzenz Wegmüller mit seinen großen Augen, der bestechende Artikulierkabarettist Julian Laybourne (herrlich sein „Mädchen“) und die wandelbare Friedensdame Nina Vieten, die auch den bösen Krieg verkörpert. Sie können tanzen und singen, holen sich Beulen, wenn’s der Sache dient, lassen Krieg krachen und säuseln Frieden.

Carsten Knödler hat wieder Talente entdeckt – wir freuen uns auf sie.

Wer zur Premiere keine Karte ergattert hat: Die nächsten Vorstellungen des „Friedens“ im Ostflügel sind am 5., 8., 27. Oktober und 30. November. Events! Nicht verpassen!